Mittwoch, 24. November 2010

Der Siliconkult nach der Jahrtausendwende

Hallo liebe Freunde,

ich bin gestern über eine merkwürdige Meldung im Portal successive vom letzten Herbst gestoßen. Bei der weiteren Recherche habe ich einen unheimlichen Kult ausgegraben, der um die Jahrtausendwende grassierte. Hier zuerst die Initialmeldung:

Das Büro des Stadtmeisters von Düsseldorf weist darauf hin, dass Bestattungen auf dem innerstädtischen Friedhof Düsseldorf aufgrund einer mehrwöchigen Schadstoffbeseitigung ausgesetzt werden.

Was ich dann in älteren Meldungen gefunden habe. ließ mir die Haare zu Berge stehen. Zunächst einmal ein Artikel aus einem regionalen Infoportal

Bergwoche vom 17.März 2182:

Nun ist es wieder Frühling. Der Boden taut langsam auf und auf dem kleinen idyllischen Friedhof in Berg muss Totengräber Hinks nicht mehr zu schwerem Gerät greifen. Hinks bedient sich gern eines uralten Spatens. Der 76-jährige weiß, dass diese nostalgische Art der Bestattung gern in Anspruch genommen wird: „Die Raumbestattungen und Pulverisierungen gehen zurück“, weiß er aus eigener Erfahrung, „ich bekomme immer öfter Anfragen nach einem handgemachten Begräbnis so wie früher.
Keine leichte Arbeit, aber Hinks macht sie gern: „Man muss immer da sein, immer beweglich. Die Leute kommen auch schon mal vorbei um zu sehen, dass das Grab auch wirklich handausgehoben ist.
Hinks wischt sich den Schweiß von der Stirn und stützt sich auf den alten Spaten, mit dem auch schon sein Vater das uralte Handwerk ausgeübt hat. Doch dann wird er ernst: „Wir haben die alten Ecken, in denen die Menschen vor 150 Jahren die Toten begraben haben immer gemieden.“ Und dann zeigt er mit ausladender Geste über seinen Friedhof: „Schauen sie, jetzt fehlt der Platz und wir müssen auch diese Flächen nutzen. Dabei brauchen wir aber viel länger als üblich, denn wir holen dort so viel ekliges Zeug aus dem Boden, das es nicht mehr schön ist.
Und dann schnauft Hinks tief, reißt sich von seinem Spaten los und deutet uns, ihm zu folgen. Bald stehen wir vor gelben Containern, ein grelles Giftzeichen fällt uns ins Auge. Als er den Deckel einer Tonne öffnet, erschaudern wir. Hinks lacht laut auf, zieht sich einen Handschuh über, greift in die glibbschige Masse und lässt das klebrige Zeug von den Fingern zurück in die Tonne gleiten.
Das ist alles altes Silikon. Das mussten sich die Menschen damals in den Körper einoperieren lassen, vor allem Frauen. Kein Mensch weiß genau, warum. Unfassbar, oder? Dann haben wir noch einen Container für Metall und alten Elektroschrott und einen für wirklich undefinierbares Zeug. Das macht dann keinen Spaß mehr, sag ich Ihnen.

Der Bericht geht noch ein bisschen weiter, aber das Interessante steht oben schon drin. Mussten sich die Menschen vor 200 Jahren wirklich Silicon in ihre Körper operieren lassen? Und warum? Wegen einer inzwischen ausgestorbenen Krankheit, die damals grassierte? Oder trug ein verheerender Aberglaube die Schuld? Ich habe weitergesucht und dann erschloss sich mir so langsam das Bild von einem grausamen Kult.

„Fritzi“ (das war mal eine Kinderzeitung) von August 2173:

Ihr müsst wissen, dass Frauen noch vor einigen Hundert Jahren von den Männern nicht gut behandelt wurden. Die Frauen durften nur wenig anziehen, damit die Männer alles von ihnen sehen konnten. Verrückt, oder? Frauen sollten den Männern gefallen. Und da Männer es schön fanden, wenn Frauen große Busen hatten, mussten sich viele operieren lassen. Außerdem musste sich jede Frau einmal in ihrem Leben in einem Wettbewerb öffentlich vorstellen und bewerten lassen. Tat sie das nicht, wurde sie für schwere Arbeiten eingeteilt, z.B. als Lehrerin.

Was wurde unseren Kindern denn da erzählt? Ich bin dann auf ein außergewöhnliches Interview gestoßen:

Zeitschrift Felicita, 12.Januar 2104

Köln. Die Ausstellung „Prostitution!!!“ stößt weiter auf reges Interesse. Bereits 3 Monate nach Eröffnung im Ausstellungscenter Kölner Domfeld konnte der 300.000ste Besucher registriert werden.
Felicita fand diesmal in Toilettenfrau Göshardt eine nicht alltägliche Gesprächspartnerin und bekam auch prompt nichtalltägliche Antworten, die wir Ihnen gern auch im authentischen Dialekt präsentieren wollen:

Felicita:
Frau Göshardt, wie laufen die Geschäfte?

Göshardt:
Och, die lofen gut. Kann mich nich beklagn.

Felicita:
Wie sieht denn ihre Kundschaft aus?

Göshardt:
Na meist machen die e ernstes Gesicht. Also wennse reikommen zu mir. Beim Rausgehn geht’s dann wieder.

Felicita:
Ich meinte vielmehr, wie sich Ihre Kundschaft zusammensetzt. Sind es schicke Menschen oder ganz normale? Wer besucht die Ausstellung?

Göshardt:
Achso, ja, ähm, da sind schon e paar schicke dabei, aber ich guck da jetzt och ne so genau hin. Ich würd sagn, die meistn sind jetzt och normal wie ich und so. Aber ich kriege ja eh nur die Gespräche mit.

Felicita:
Die Gesprächsthemen, die interessieren uns natürlich sehr. Was reden die Leute?

Göshardt:
Na am meist regn die sich natürlich über das Modeldenkmal uff. Also diese Topmodeldings hier. Da wo die Gedenken sind wegen dem Massaker damals. Das wäre ene Unverschämtheit, die ganzen Nakschn so zu zeigen, wo die doch alle umgemeuchelt wurden von der, der Dings hier.

Felicita:
Sie meinen von Sarah Wonder. Die berüchtigte letzte Moderatorin von „The World Next Topmodel“. Das war die, die im Jahr 2024 die gesamte Jury und mehrere Kandidatinnen der Sendung umgebracht haben soll.

Göshardt:
Jaja, genau die. Aber man wees es ja garnich genau, wers nu war. Is ja alles nur rekonstruiert von die Ausgrabungen. Is ja alles eigestürzt damals. Und abgebrannt och noch.

Felicita:
Nach dem Unglück ging das Gerücht um, dass Sarah Wonders Entgleisung lange vorher von einer feministischen Untergrundorganisation geplant gewesen sein soll.

Göshardt:
Ach, alles Geschwätz das. Wir wissen doch sowieso nich, was der Zirkus sollte. Die Leute tun so, als wüsstn ses, aber gelebt hat da noch keener von heute. Wir könn das garnich wissen, wissen se? Warum der ganze Zirkus überhaupt? Die Leute ham sich doch nich heiß gemacht wegn soner Wahl. Das könnse ihrm Apotheker erzähln.

Felicita:
Über was reden Ihre Gäste noch?

Göshardt:
Na über die Implantatausstellung. Da werdn ja die ganzn Dinger ausgestellt, die sich die Fraun damals in die Tittn ham reinmachn lassn müssn. Und in de Lippn. Da hör ich oft Leute, die ganz erschüttert sind und och schon mal heuln deswegn. Weils so traurig is, weßte? Da is ja son kleenes künstliches Brustpolster, das damals den klenen 18jährigen Mädls einoperiert wurde. Da fällt jedm die Gusche runter, sach ich ihnen. Da habsch noch keen gesehn, der nich geschockt war. Und die meistn Diskussionen gehen dann dadrüber, warum die dazu gezwungen wurdn. Ich meine, sone Operation am lebenschn Leibe und das ohne vernünftschn Grund. Bei der Topmodelwahl war son Mist ja sogar Bedingung. Die warn alle pervers damals, sagsch ihnen.

Das Interview wird dann leider immer unappetitlicher. Aber was diese Klofrau da so frei erzählt hat, habe ich in dieser informativen Form nirgendwo anders gefunden. Nur emotionsgeschwängerte Berichte wie hier in einem Geschichtsjournal:

„HysteryHistory“, Februar 2105:

Da gab es eine Revolution. In Deutschland beispielsweise wurde es Frauen gestattet, untereinander zu heiraten, Feministische Zeitschriften wie die „Schwarze Emma“ schossen aus dem Boden und dennoch wurden Frauen nach der Jahrtausendwende so grausam wie noch nie behandelt! So wurden Frauen gezwungen, sich bei lebendigem Leib mit Silicon voll stopfen zu lassen, um ihre Körperformen zu verunstalten. Außerdem mussten sich viele Frauen weiteren gewaltsamen Operationen unterziehen, die uns heute die Haare zu Berge stehen lassen. Da wurde Haut geglättet, Körpermasse abgesaugt, unvorstellbar. Die Qualen mussten höllisch gewesen sein! Zum Glück hat Sarah Wonder 2024 mit ihrer dramatischen Tat diesem Kult die hässliche Maske vom Gesicht gerissen und damit sein Ende eingeläutet.

Irgendwie komme ich aber nicht weiter, was die Gründe des Siliconkultes angeht. Wer hatte die Macht, diesen unmenschlichen Kult so lange am Leben zu erhalten? Ich bin in einem Artikel auf eine Analyse von Thommes Donnel gestoßen (zu Donnel siehe auch http://nachrichten-aus-der-zukunft.blogspot.com/2010/11/der-groe-krieg-im-20-jahrhundert.html):

 new kid on the blog“, Märzbeitrag 2125, Körperkulte von Rom bis Big Zero:
Der Körperkult nahm dann ab etwa 1980 durch Einsatz ausgefeilter Medienstrategien bizarre Formen an. Von Medienfirmen wurden lebende Extremformen mit Fantasienamen wie Katzenberger oder Price geschaffen, welche dann durch den Einsatz überschäumender Medienpräsenz bald als schön und sogar normal galten. Merkmal dieser menschlichen Puppen war die Auspolsterung mit Silicon bei gleichzeitiger Verminderung der geistigen Fähigkeiten. Durch Medienereignisse wie Topmodel und anderen Körpershows wurde das weibliche Idealbild weiter ins Lachhafte verformt. Die Medienindustrie wiederum vermochte dies für Produktplacements zu nutzen, deren Ausmaß heute nur schwer vorstellbar ist. So geht der Körperkult, der im Jahr 2024 seinen Höhepunkt – und auch sein jähes Ende fand, als eine der größten Manipulationen menschlichen Geistes in die Geschichte ein. Besonders perfide war, dass die Manipulation selbst vor Kindern nicht Halt und sie damit früh zu Sklaven eines Marktes außer Kontrolle machte.

Nun, ich denke, damit lag der große Thommes Donnel diesmal daneben. Immerhin setzt er hier eine gewisse Freiwilligkeit zur Misshandlung voraus, was mir unmöglich scheint. Auch wenn man mit Geistesmanipulation einiges erreichen kann, so ist es doch völlig ausgeschlossen, dass man dadurch Millionen Menschen dazu bringen kann, sich freiwillig einer Operation zu unterziehen, die den eigenen Körper schädigt. Thommes Donnel ist dann Jahre später auch zurück gerudert. Ihm war seine eigene Theorie dann doch zu abenteuerlich.

Abschließend darf ich sagen, dass ich froh bin, dass meine beiden Töchter in einer Welt aufwachsen dürfen, in der sie nicht gezwungen werden, sich misshandeln zu lassen. Ich habe inzwischen  herausgefunden, dass das Denkmal zum Topmodelmassaker von 2024 inzwischen ganz vergessen im Stadtpark in Köln stehen und arg verrostet sein soll. Ich werde es demnächst einmal besuchen und eine Blume für Sarah Wonder ablegen. Nein, besser zwei. Für jede meiner Tochter eine.

Euer Marsili

Hinweis zum Schluss: Mein Dank für die Idee geht an Florian Bauer aus unserer Facebookgruppe "Nachrichten aus der Zukunft", in der übrigens jeder gern willkommen ist.

1 Kommentar:

  1. Hier ist der bekannte Buchautor Dirk Michael Roscher herzliche Grüße aus der Vergangenheit.

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