Samstag, 14. Juli 2012

NEXT TRY – Aufbruch in eine neue Zeit


In den Jahren nach der Jahrtausendwende formte sich in Mitteleuropa eine Bewegung, die heute im Jahr 2200 zu den bedeutendsten Einflüssen des weltweiten gesellschaftlichen Wandels gezählt wird. Nach Meinung führender Historiker besaß sie damals noch am ehesten die Fähigkeit, die Menschheit vor den Katastrophen zu bewahren, die später mit dem großen Kataklysmus in Zero un  im Jahr 2052 über sie hereinbrach. Als sich unsere Gesellschaft nach diesen Schreckensjahren neu formte, floss in die geistige Neugestaltung ein Großteil der Ideen ein, die bereits im Gründungsdokument sowie in den später ausgearbeiteten Thesen dieser visionären Bewegung enthalten waren.
Legenden ranken sich um die Entstehung der Organisation, die zu ihrer Hochzeit mehrere Millionen Mitglieder hatte. Wir wissen heute weder, wo genau ihr Ursprung lag noch, welche Menschen sich damals zusammenfanden und den Funken auslösten, der zu einem großen Feuer der Herzen aufloderte. Wir wissen nur, was es war, das die Menschen sich damals vereinen ließ: Es war die Sehnsucht nach Frieden und der Wille, eine Zukunft auf unserem Planeten zu haben. Und der Name ist längst eine Legende für sich: NEXT TRY.
Meine Mission hat vor kurzem eine Veränderung erfahren. Wie ihr inzwischen vielleicht wisst, habe ich vom Ministerium für chronologische Angelegenheiten inzwischen die Lizenz erhalten, selbst in die Vergangenheit zu reisen. Einige Beiträge meines Blogs zeugen bereits davon, ebenso mein in der Vergangenheit erschienenes erstes Buch „Wie ich verlernte, Tiere zu essen.“.
Nun also NEXT TRY. Ich darf verraten, dass eine meiner beobachtenden Aufgaben darin besteht, etwas über deren Gründungsjahre in Erfahrung zu bringen.
Und heute werde ich meine ersten Erkenntnisse mit euch teilen.
Das Gründungsmanifest
Zunächst möchte ich das berühmte Gründungsmanifest zitieren:
Aufbruch
Unsere derzeitige Gesellschaftsform hat versagt.
Die weltweite Zerstörung der Natur zeugt davon. Unermessliches Leid, Kollaps. Raubbau der Lebensgrundlagen uns folgender Generationen.
Unsere Gesellschaft funktioniert derzeit nur noch, weil sie die letzten Reserven anzapft und die großen Probleme weiter verdrängt. Bald werden Klima und Ökosystem der Erde umgekippt sein. Die Konsumokratie fährt gegen die Wand.
Auch wenn die Zeit schön war und wir uns gut amüsiert haben wird es nun Zeit, die Verdrängungsmechanismen abzuschalten und auf die Bremse zu treten. Nicht Amüsement und Profit dürfen mehr im Vordergrund stehen, sondern der Erhalt unserer Lebensgrundlagen.
Es ist Zeit, Industrie, Politik, Religion und Wissenschaft die Macht zu entziehen, die sie auf uns ausübten. Es ist Zeit zu erkennen, dass wir selbst es sind, die ihnen die Macht erst gaben, weil wir ihre Geschenke annahmen und damit unsere Freiheit verkauften.
Zeit, ihnen zu zeigen: „Ihr habt versagt. Jetzt sind andere dran, es zu versuchen.“
Wir sind jetzt dran.
Nächster Versuch.
NEXT TRY

Leider ist das Original in den Wirren um Zero un verloren gegangen, nur dieses alte Foto existiert noch davon. Die Worte wurden damals offenbar ganz spontan in ein Buch geschrieben. Der oder die Verfasser sind nicht mehr bekannt, auch nicht, ob das Buch noch weitere Texte enthielt. Es gibt heute wilde Theorien darüber, was auf den anderen Seiten stehen könnte. Uris Bellacard hat das Thema später in seinem Roman „Die feine Art zu sterben“ aufgegriffen. Er lässt darin eine Gruppe von Aussteigern in den Bergen einer einsamen polynesischen Insel nach den verborgenen Texten in ihrem Geist suchen. Im Lauf der Handlung entwickelt sich ein aberwitziger Trip, bei dem Fiktion und Realität ineinander verschwimmen. Im Leser wird ein derart intensiver Sog erzeugt, dass er nach der Lektüre nur noch eins will: wissen, welche verborgenen Worte im Buch wirklich enthalten waren. Doch dieser Wunsch muss leider unerfüllt bleiben.
Die ersten Jahre
Meine Mission in der Vergangenheit führte mich bisher in die Jahre 2011 und 2012. Dort vermuten wir die Ursprünge von NEXT TRY. Und ich fand in der Tat Spuren. Eine davon führte mich nach Berlin.
Berlin war damals eine aufregende Stadt. Mit drei Millionen Menschen zählte sie nicht zu den größten Städten der Welt, doch sie war ein Schmelztiegel der Sehnsüchte. Und eine der stärksten Sehnsüchte war die nach Frieden mit der Natur und insbesondere nach Frieden mit den Tieren. Berlin bot modern denkenden Menschen sehr gute Möglichkeiten, sich zu finden, sich zu vernetzen und etwas aufzubauen. Große Organisationen hatten hier ihr zu Hause. Organisationen, die später im Schulterschluss Millionen Menschen zu bewegen vermochten. Alles begann mit der Abkehr vom Konsum tierischer Produkte. Das Bewusstsein um die ethischen Konflikte und die gewaltigen Probleme, die die Tierproduktion auf der Welt hinterließ, entwickelte hier den entscheidenden Schub, der die Schweigemauern der Medien durchbrechen konnte und so die Mitte der Gesellschaft erreichte. Gerade im deutschsprachigen Raum waren in den Jahren zuvor theoretische Ansätze ausgearbeitet und verbreitet worden, die die Tierrechtsbewegung aus den Kinderschuhen hob und zu einem ernstzunehmenden Faktor machte.
Der Name
Der Name NEXT TRY entstammt vermutlich einem alten Roman, der Hyperionsaga des visionären Autors Dan Simmons. In seinem berühmten Epos schuf er eine faszinierende Figur namens Aenea. In ferner Zukunft wächst diese Frau zur Führerin einer neuen Zeit heran. Irgendwann soll sie eine Rede halten vor Menschen, die in einer zerstörten Welt ihre Hoffnungen an sie knüpfen. Sie will ihnen Mut geben, will ihnen sagen, was sie tun haben in ihrer Not. Gut überlegt sie ihre Worte, feilt an der Rede, immer wieder. Und sie ist nicht zufrieden. Zu lang. Also kürzt sie die Rede. Sie kürzt sie immer weiter, will sie auf das Wesentliche reduzieren und als es schließlich so weit ist, als die Menschen erwartungsvoll zu ihr hinaufsehen, sind nur zwei Worte geblieben: „nächster Versuch.“ Next Try.
Was wollte sie den Menschen damit sagen? „Glaubt an euch. Niemand kann euch vorschreiben, was ihr zu tun habt. Weder Politiker, noch Industrien, noch Medien. Ihr, die vielen Menschen seid es, die gestalten, nicht einige wenige, die euch die Gesetze diktieren wollen. Das alte System hat versagt. Zeit, etwas Neues zu beginnen. Seht nicht zurück. Haltet euch nicht mit Schuldzuweisungen auf. Lasst die Dunkelheit hinter euch. Auf zum nächsten Versuch. Und macht es besser. Ihr selbst wisst, was schief gelaufen ist. Ihr müsst nur in eure Herzen sehen und auf das hören, was in euch ist. Next Try.“
Aenea stirbt am Ende des Epos. Aber sie stirbt keinen normalen Tod. Sie opfert sich und geht auf in den Menschen. Sie ist in ihnen. Und mit ihr ist es die Hoffnung und die Kraft für eine neue, für eine bessere Welt.
Entfachung eines weltweiten Feuers
Wie wir wissen, wuchs NEXT TRY in den Jahren nach der Gründung zum geistigen Global Player heran. Da sich viele Organisationen dahinter vereinten, konnten zunächst kräftige Finanzquellen erschlossen werden. Hochgebildete und technisch herausragend geschulte Kräfte lenkten bald mit Besonnenheit und einer ordentlichen Portion Pragmatismus die Geschicke der Bewegung und sorgten für eine außergewöhnliche Blüte. Mit einer Art Guerillataktik wurden große Firmen unterwandert. Bald fanden sich an Schalthebeln großer Konzerne NEXT TRY-Leute und rissen von dort die Ruder herum. Große Medien konnten so beeinflusst werden. Legendär ist die beinahe gelungene komplette Übernahme der Tageszeitung BILD durch NEXT TRY. 
In der Politik hatte sich währenddessen eine neue Strömung entwickelt, die auch in den Regierungen die Schleusen für die Ideen von NEXT TRY öffnete. Immer mehr Menschen begeisterten sich für den Freiheitsgedanken. Bald war die Partei, die sich 2012 noch DIE PIRATEN nannte und damals noch sehr unerfahren war, an der Regierung beteiligt.
Einen weiteren sehr starken Einfluss auf NEXT TRY übte die berühmte Occupybewegung aus, der ich mich noch in einem eigenen Beitrag widmen werde. In ihr fanden sich die entscheidenden Wurzeln für die praktische Veränderung des ganzen Gesellschaftssystems. Die Verschmelzung der Ideen ließ letztendlich die Kraft entstehen, die NEXT TRY so erfolgreich werden ließ.
Gescheitert?
Und dennoch. Zero un konnte auch diese Bewegung nicht aufhalten. Warum nicht?
Ich verbringe nun schon einige Monate in der Zeit, in der dieser legendäre Aufbruch in eine neue Zeit seinen Anfang nahm. Ich spüre die Stimmung, die Aufregung, ich begegne vielen Menschen, die Teil haben an der Veränderung und diese ausgestalten. Natürlich fällt es mir oft schwer, weil ich um die bevorstehenden Dinge weiß. Natürlich bin ich oft traurig, wenn ich die Hoffnung in den Augen sehe und darum weiß, dass der Wandel der Gesellschaft leider zu spät kommen wird. Und es fällt mir zunehmend schwer, meine wahre Herkunft zu verschleiern und mich mit der Zurückzuhaltung zu bedecken, die mir vom Ministerium auferlegt wurde.
Und immer öfter frage ich mich: warum ist NEXT TRY am Ende tatsächlich gescheitert?
War es wirklich so, wie wir es zu wissen glauben? Unserem Erkenntnisstand nach waren die Fesseln der Gesellschaft damals noch zu stark. Es war nicht möglich, sich gänzlich aus ihnen zu befreien. Auch die Menschen, die für die Veränderung kämpften, mussten sich nach wie vor gestrigen Gesetzen unterwerfen. Sie brauchten Geld zum Leben. Sie brauchten Produkte, die ihnen nach wie vor von der raubbauenden Industrie zur Verfügung gestellt wurden. Sie waren nach wie vor in Traditionen gefangen, aus denen sie sich selbst nur sehr langsam befreien konnten. Es war ihnen nicht möglich, sich der Konsumokratie ganz zu entziehen. Auch NEXT TRYer wollten die neuesten Handys und Computer und auch sie verbrauchten Rohstoffe in großen Mengen. Und sie konnten sich nur langsam, zu langsam von der stärksten Fessel von allen befreien: vom Egoismus.
Die Jahre im unreflektierten Konsum hatten die Menschen aus dem inneren Gleichgewicht gebracht. Sie hatten von Kind auf gelernt, sich selbst über äußere Dinge zu identifizieren. Über Nationalitäten, Fußballmannschaften, Fernsehserien, Autos, materiellen Besitz.
Und nur wenigen gelang es damals, die eingefahrenen Gleise in der Konsequenz zu verlassen, die vielleicht nötig gewesen wäre. Auch Veränderer lechzten weiter nach Selbstbestätigung. Viele von ihnen glaubten nach wie vor, dass ihre Sicht von der Welt die einzig richtige sei. Konstruktive Kritik anzunehmen fiel vielen nach wie vor schwer und Angriffe auf Andersdenkende waren an der Tagesordnung. Auch NEXT TRYer lechzten weiter nach dem Füllen der nach jahrelanger Betäubung durch materialistische Erziehung und unreflektiertem Konsum entstandenen inneren Leere. Und so suchten auch sie weiter nach Bestätigung im Äußeren, statt diese in sich selbst zu finden. Gerade aus der Tierrechtsbewegung stammten viele verletzte Egos, die es zwar gut meinten, jedoch durch Übereifer vieles vom Aufgebauten wieder einrissen.
Der Kampf zerrissener Egos wucherte, je mehr Macht NEXT TRY bekam. Die Einigung hinter edlen Gedanken, das Zurückstecken der persönlichen Belange hielt nur einige Jahre. Und am Ende zerriss dieser innere Konflikt die ganze Bewegung. So glauben wir, ist es geschehen.
Ob es wirklich so war, bzw. so kommen wird, vermag ich aus dem Jahr 2012 heraus noch nicht zu sagen. Ich muss zugeben, dass die Menschen dieser Zeit mir inzwischen ans Herz gewachsen sind. Auch die innerlich zerrissenen und verletzten, auch die, die ihrem Unmut laut Luft machen, selbst wenn sie damit das Gegenteil von dem erreichen, was sie erreichen wollen. Was ich an dieser Zeit so liebe ist die faszinierende Stimmung. Die Euphorie, der Enthusiasmus, die Verletzbarkeit, die ganzen echten und offenen Gefühle. Diese Augen, die Blicke, der Sanftmut, der urplötzlich umschlagen und einen forttragen kann mit seinem Feuer. Und die Hoffnungen und die aus der Sehnsucht erwachenden Ideen. Dieser noch gärende Sud, der beinahe tagtäglich neue Blüten treibt und es schafft, einen rasend schnell zu erfassen, mitzureißen und auch wieder niederzuwerfen.
Inhalte
In den Jahren nach der Gründung kristallisierten sich in NEXT TRY Grundsätze heraus, die als Grundlage für eine neue Gesellschaft dienen sollten. Ich möchte an dieser Stelle einige der bedeutendsten Thesen nennen, die für uns heute im Jahr 2200 selbstverständlich klingen, damals für viele aber noch fremd und utopisch waren.
Das Erstaunliche ist, dass die meisten Menschen eine auf diesen Thesen bauende Welt grundsätzlich für wünschenswert hielten, diese aber dennoch als unerreichbar abtaten. NEXT TRY wollte damit brechen. Denn warum sollte etwas unverwirklichbar sein, wenn doch der große Teil der Menschheit sich dies erträumte? Dieses Paradox aufzuheben war einer der großen Kraftquellen der Bewegung. Es muss sich durchsetzen, was tief im Inneren der Menschen heranreift. Nur so kann eine gesunde gesellschaftliche Entwicklung gelingen.
Hier ein Auszug der Thesen:
Schaffung des Bewusstseins dafür, dass der materielle Wohlstand der westlichen Welt zum großen Teil nicht verdient ist sondern auf Diebstahl an der Natur, insbesondere an den Tieren sowie an Menschen ärmerer Länder und kommenden Generationen beruht.
Beendigung jeglicher Subvention von Produkten, die Diebstahl an der Natur und an Menschen begehen. Im Preis der Produkte müssen sich die Kosten wiederfinden, die tatsächlich verursacht werden.
Schaffung des Bewusstseins dafür, dass die öffentliche Meinung in unserer Gesellschaft erheblich vom Profitgedanken gelenkt ist. Der Gesellschaft muss die Macht genommen werden, sich kritiklos konsumierende Menschen heranzuziehen. Sie darf Menschen nicht länger dazu missbrauchen, ein marodes Systems zu erhalten.
Schaffung des Bewusstseins dafür, dass Geld verstofflichte menschliche Beziehungen repräsentiert. Unterbindung von Finanzaktionen, die einen verantwortungsvollen Umgang mit den damit verbundenen Konsequenzen für die Menschen missachten. Mensch und Natur müssen im Zentrum jeglicher Aktivitäten stehen. Geld darf dagegen nur als Hilfsmittel dienen.
Abschaffung jeglicher Form von Meinungskontrolle, um die natürliche geistige Entwicklung der Gesellschaft zu ermöglichen.
Schaffung des Bewusstseins dafür, dass Abkehr vom über die Grundbedürfnisse hinaus gehenden Konsum keine Einschränkung bedeutet und der dadurch entstehende Raum kein Defizit ist sondern Freiraum für geistige Fortentwicklung bietet.
Schaffung des Bewusstseins dafür, dass der Leistungsgedanke der westlichen Zivilisation nur dem materiellen Wachstum dient und einer gesunden geistigen Entwicklung im Wege steht. Schaffung von Freiräumen für Selbstverwirklichung durch Abwertung aller nutzlosen gesellschaftlichen Zwänge.
NEXT TRY will ein Schiff in die Zukunft bauen. Doch wir werden dafür keine Aufgaben verteilen. Vielmehr werden wir die bereits in den Menschen lodernde Sehnsucht nach dem Meer befreien (nach Saint-Exupéry).
Nachdem die Thesen veröffentlich waren, wurden vor allem die Medien vorgeschickt, um sie aufs Heftigste anzugreifen. Zunächst wurde NEXT TRY mit dem üblichen Spott betrachtet. Worte wie Extremisten, Träumer, Verschwörungstheorie, krude, Sozialismus und Utopie waren häufig benutzte Worte. Nachdem die sich gut organisierende Bewegung aber einfach nicht mehr klein geredet werden konnte, schaltete sich auch die Politik mit absurden Gerichtsverfahren gegen deren Mitglieder sowie mit Verboten ein, die nur die Hilflosigkeit der Staatsorgane offenbarten. Dadurch wurde jedoch nur erreicht, dass die Thesen noch stärker von der Öffentlichkeit wahrgenommen wurden und da wirken konnten, wo sie auf fruchtbaren Boden fielen: in der tief im Inneren der Menschen sitzenden Sehnsucht nach Frieden und Freiheit. Bald glaubten die meisten Menschen den öffentlichen Verleumdungen nicht mehr. Bald verstanden sie, dass die von NEXT TRY beschriebene Welt keine Utopie sein muss. Bald verstanden sie, dass sie selbst es waren, die diese Welt zu errichten vermochten. Bald wussten sie: Wenn wir viele sind, müssen wir es nur noch wollen.
Was wäre wenn?
Was wäre geschehen, wenn NEXT TRY durchgehalten hätte? Hätte es Zero un gegeben? Hätte es mich gegeben? Könnte ich heute von den Menschen der Vergangenheit berichten?
Manchmal überlege ich: Was wäre geschehen, wenn die sich nach Veränderung sehnenden Menschen sich nicht in neuen Zwängen verloren hätten? Was wäre, wenn die Menschen parallel zu ihrem Erwachen aus dem Konsumirrtum und der daraus folgenden Abkehr zum Beispiel vom Tierkonsum auch zu sich selbst gefunden hätten? Wenn sie Frieden und Gleichgewicht in sich selbst gefunden und dazu nicht unbewusst die Bewegung benutzt und ihr dadurch viel Kraft geraubt hätten? Wenn sie die Thesen wirklich verinnerlicht hätten?
Was wäre geschehen, wenn NEXT TRY nicht Millionen nach Bestätigung suchender Egos vereint hätte sondern Millionen von Menschen, die in sich ruhten und mit ihrer Besonnenheit noch viel größere Kraft entwickelt hätten? Was wenn sie gewusst hätten, was wirkliche geistige Freiheit bedeutet? Daß Freiheit nicht nur bedeutet, die äußeren Fesseln zu zerreißen sondern vor allem die inneren, selbst angelegten, die ihnen von der Gesellschaft nur angeboten worden sind? Was, wenn diese für uns im Jahr 2200 selbstverständliche Befreiung des in den Menschen steckenden Selbst schon damals im ganz großen Stil um sich gegriffen hätte?
Hätte NEXT TRY dann den Untergang in Zero un verhindern können? Hätte das Schicksal von Milliarden Menschen einen anderen Lauf genommen? Werden wir es jemals erfahren?
Aber dann reiße ich mich wieder zusammen und schiebe diese Gedanken wieder von mir weg. „Alles hat seinen Sinn“, hat mein alter Geografielehrer immer gesagt. Wenn die Erdplatten sich verschieben, kommt es zu einem großen Krawall und dann türmt sich ein Gebirge auf, hihi. Und wenn es den Krawall nicht gäbe, wo sollten wir dann Ski fahren, hä?“
So ein sinnloser Spruch. Ich habe mich immer über den alten Kauz lustig gemacht. Natürlich weiß ich, dass meine Heimat, das Jahr 2200 ganz anders aussehen würde, wenn es die Katastrophen und das unermessliche Leid in Zero un nicht gegeben hätte. Aber jetzt mal ganz ehrlich: Ich hasse Skifahren.
Und jetzt wohne ich sowieso erstmal in Berlin. Im Jahr 2012. Und ich liebe diese Stadt und die Menschen. Ich liebe das Grün in den Parks und ich liebe es, den Menschen in die Gesichter zu sehen, die durch die Parks schlendern. Ich liebe die hastenden und die weilenden. Und ich liebe sogar den Geruch der U-Bahn, weil der mich daran erinnert, dass mich überall wo ich aus der Bahn steige, neue Überraschungen erwarten. Und ganz besonders liebe ich den Sex, den diese Stadt ausstrahlt. Den aufregenden. Den veganen. Es gibt keinen besseren.
Und ich glaube, dass hier irgendwo in den nächsten Monaten jenes Dokument geschrieben werden wird, das einmal den Zündfunken zum Aufbruch in eine neue Zeit liefern wird. Vielleicht bin ich einigen der couragierten Köpfe bereits begegnet, die die Initiative ergreifen und ihre Kräfte zu diesem vielversprechenden Netzwerk verknüpfen werden, das wir unter dem Namen NEXT TRY kennen und verehren? Ganz sicher bin ich aber schon unter denen vielen, die die Bewegung einmal tragen werden mit ihrer ganzen Kraft. Und wer weiß, vielleicht wird die Geschichte auch einen ganz anderen Verlauf nehmen als den, den wir aus dem Jahr 2200 kennen. Vielleicht wird es doch anders kommen. Können die Fehler vielleicht doch vermieden werden? Nichts ist unumstößlich, selbst die Vergangenheit nicht. Doch ich will mich nicht aufs Feld der Spekulation begeben.
Viel lieber will ich leben und lieben und die Dinge tun, die mein Bauch mir zuflüstert. Und schon seit langem sagt er, daß ich noch ein Weilchen hier bleiben soll. Soll das Ministerium für chronologische Angelegenheiten mich ruhig tadeln und abmahnen dafür. Ist mir egal. Es gibt Schlimmeres. Zum Beispiel ein gefällter Baum im brasilianischen Urwald ...

Euer Marsili Cronberg