Derzeit schreibe ich am Nachfolger von "Wie ich verlernte, Tiere zu essen". Viele Eindrücke habe ich bereits verarbeitet. Viele der Texte habe ich schon frei veröffentlicht, einige werden noch folgen. So auch dieser, der allerneueste:
Gestern weilte mal wieder im Jahr 2012. Es
ist der 23. Mai. Ich bin in Berlin. Und dort hatte ich neben 400 anderen das Glück, einem der
großen Helden der Menschheit zu begegnen.
Paul Watson, der
Gründer der Organisation zum Schutz der Meeresbewohner Sea Shepherd, ist für
mich ein größerer Held als diejenigen, die andere für Helden halten. Er ist für
mich größer als Muhamed Ali oder Michael Schumacher. Er ist größer als Joanne
K. Rowling, als Heidi Klum oder wie sie alle heißen, die mit ihrem Talent die
Menschen zwar gut unterhalten und ihr Bankkonto groß gemacht haben, deren Heldentaten
im Grunde aber nur für einen recht befristeten Impuls in der Geschichte gereichen.
In meinen Augen ist das
was sie taten sogar trivial im Vergleich zu dem, was der Captain bewegt. Paul
Watson ist einer der bedeutendsten Umweltschützer unserer Zeit. Mit seinem Team
von Sea Shepherd hat er mehr Walen das Leben gerettet als je ein Mensch zuvor.
Ebenso setzt er sich unermüdlich für den Schutz der inzwischen weltweit
bedrohten Haipopulation ein. Wenn die Haie dezimiert werden, bricht das
Ökosystem Meer zusammen. Die von den Haien regulierten Bestände der
Planktonfresser werden sich so stark vermehren, daß das Plankton deutlich
abnehmen wird. Plankton wiederum sorgt weltweit für die Hälfte der CO²-Umwandlung
in Sauerstoff. Kurz gesagt: wenn die Haie sterben, wird der Klimawandel
vollends außer Kontrolle geraten. Bis zu 100 Millionen Haie werden jedes Jahr
getötet. Dagegen kämpft Paul Watson. Er kämpft für unsere Zukunft.
Es ist ein sonniger
Tag. Auf beinahe 30 Grad klettert das Thermometer und die Bäume tauchen Berlin
in ein frisches Grün. An der Siegessäule haben sich hunderte Menschen
versammelt. Sie demonstrieren für Paul Watsons Freiheit, denn die ist bedroht
durch einen Haftbefehl aus Costa Rica. Fischer, die er vor über zehn Jahren
beim illegalen Haifischen ertappt und mit einer Wasserkanone am weiteren
Haimorden gehindert hat, haben einen Haftbefehl erwirkt. Er ist ihnen ein Dorn
im Auge, denn er hat mit seiner Aktion die Aufmerksamkeit der Welt auf eine
große im Untergrund gewachsene Industrie gelenkt, die unter Missachtung von
geltenden Gesetzen einen gewaltigen Markt mit getrockneten Haiflossen aufgebaut
hat. Sie hat ein Kopfgeld auf ihn ausgesetzt. 25.000 Dollar für den, der ihn
unschädlich macht. Obwohl Interpol den Haftbefehl aus Costa Rica für nichtig
erklärt hat, ist Deutschland diesem mit preußischem Gehorsam nachgegangen. Wenn
Sie diese Zeilen lesen, dürfte die Sache hoffentlich längst ausgestanden und
vergessen sein.
Da Paul Watson auf
Kaution freigelassen wurde, ist er selbst anwesend. Er lässt den Rummel über
sich ergehen, hunderte Fotos werden gemacht, er macht sie alle mit, lächelt
freundlich, signiert Bücher, T-Shirts und sogar Handys. Er wirkt wie ein
Popstar in diesem Moment.
Und dann hält er eine
Ansprache und ich möchte an dieser Stelle einige seiner Worte zitieren. Worte
mit ungeheurer Kraft:
Wir leben auf einem Raumschiff
Es treibt durch den Kosmos mit allem was darauf
lebt.
Und wie jedes Raumschiff braucht auch unsere Erde
eine Crew.
Doch nicht wir sind die Crew, wir sind nur die
Passagiere.
Wir dürfen eine großartige Zeit haben und uns hier
gut unterhalten.
Die Crew dagegen ist die uns
umgebende Natur. Es sind die Fische, die Bäume, die Pflanzen und alle
Kreaturen, von denen wir Menschen abhängig sind. Und wir dürfen die Crew nicht
töten, wenn wir überleben wollen.
In den USA bin ich einmal kritisiert
worden weil ich sagte: „Würmer sind wichtiger als Menschen“. Mir wurde entgegnet:
„Wie kannst du nur so einen Quatsch reden, Würmer wären wichtiger als Menschen.“
Und meine Antwort war: „Weil Würmer wichtiger als Menschen sind.“
Der Grund ist der: Würmer können auf
der Erde leben ohne Menschen. Die Menschen können aber nicht ohne die Würmer
leben.
Wir brauchen Würmer, sie brauchen uns nicht.
Wir brauchen Fische, sie brauchen uns nicht.
Wir brauchen Bäume, sie brauchen uns nicht.
Wir brauchen die Natur, um zu
überleben.
Die Natur braucht uns nicht für ihr
Überleben.
Wir müssen die Crew beschützen auf
dem Raumschiff Erde.
Paul Watson wird für
seine Taten gehasst. Er hat illegal agierenden Wilderern auf den Meeren, ja
ganzen Walfangflotten, schwere materielle Schäden zugefügt und so dafür
gesorgt, daß unzählige Meeresbewohner ihrer Tötung entgehen konnten. Er hat
dafür gesorgt, daß der Fokus der Öffentlichkeit auf die illegalen Methoden fiel
und diese damit ausleuchtete. Die, die ihn hassen sehen in ihm nun den, der
ihre Lebensgrundlage zerstört. Doch was ist eine Lebensgrundlage wert, für die
ein ganzes Ökosystem ins Wanken gerät, für die so schwerer Schaden an der Natur
angerichtet wird, daß davon gar das Wohl aller Menschen auf dem Planeten
bedroht wird?
Nach der Demonstration
lehnt Paul Watson an einer Steinmauer. Die Sonne strahlt durch die Bäume und
wirft ein wunderschönes Licht auf die um ihn Versammelten. Alle strahlen,
wirken froh, optimistisch. Es ist wieder ein Zeichen gesetzt worden, wieder ein
Zeichen, das die Aufmerksamkeit der Öffentlichkeit auf die Bedeutung des
Kampfes gegen den Raubbau an der Natur lenken wird.
Paul wirkt ein wenig
verlegen. So viel Rummel um ihn. Er wirkt müde, auch wenn er sich alle Mühe
gibt, seine Erschöpfung zu verbergen. Gleich muss er wieder los, nach
Frankfurt, er muss sich derzeit zwei Mal am Tag bei der Polizei melden. In
seiner Ansprache erwähnte er, daß die Beamten sich bei ihm entschuldigten,
ihren Anordnungen Folge leisten zu müssen. Es fällt ihnen sichtlich schwer,
Befehle einer demokratischen Regierung ausführen zu müssen, die sich so
offensichtlich gegen das Menschenwohl richten wie dieser.
Später laufe ich ganz
allein durch Berlin. Ich beobachte die schwitzenden Menschen, die durch die
Straßen hetzen, tauche in das Gewimmel am Alexanderplatz ein und finde
schließlich bei einem Italiener am Kollwitzplatz einen gemütlichen Tisch unter
sattem Grün.
Es fällt mir auf einmal
schwer, ins normale Leben zurückzufinden. Es fällt mir auf einmal schwer, die Bedeutung
der menschlichen Belange zu akzeptieren oder die der täglichen Amüsements, mit
denen wir uns Tag für Tag berieseln lassen. Oder betäuben lassen. Ja, das ist für
mich in diesem Moment wohl das richtige Wort: mit denen wir uns betäuben lassen.
Kurzweil, Gaumenkitzel,
Sonnebrillen und tolle Klamotten. Die tägliche Serie in der Glotze nicht
verpassen, auf den Nachbarn schimpfen, der wieder den Müll nicht getrennt hat oder auf irgendjemand anderen, der gerade
im Weg steht und ein schönes Ziel für unseren Minderwertigkeitskomplex abgibt.
Und ist es schön sauber zu Hause? Ist der Rasen ordentlich gemäht? Der Urlaub
auch nicht zu teuer gebucht? Und das Auto, um Himmels Willen das Auto hat einen
Kratzer. Armselig.
Was für ein Vergleich
zu den gewaltige Kratzern, die Captain Paul Watson an seinem Schiff in Kauf nimmt,
wenn er die illegalen Walfangschiffe rammt und so daran hindert, weiter Wale zu
töten.
Wenn ich jetzt ein
Schiff hätte, dann würde auch ich sofort auslaufen und es ihm gleich tun. Ich
würde in den Kampf ziehen. Ich würde Wilderer jagen. Sofort. Das heißt
natürlich, erst nach dem ich meine leckeren Spaghetti Aglio Olio hier beim
Italiener mit dem schattigen Plätzchen auf dem Kollwitzplatz aufgegessen habe.
Paul Watson weckt
Phantasien. Er setzt sich über Konventionen hinweg, nimmt das Gesetz in die
eigene Hand, weil die verantwortlichen Staaten nichts für deren Einhaltung unternehmen.
Er ist wie ein Superheld, wie Batman oder Spiderman, nur in real. Und er wird
weltweit gefeiert dafür, gar mit Auszeichnungen überhäuft. Das Time Magazin
wählte ihn zu einem der 20 größten Helden des Umweltschutzes, der Guardian
führt ihn in seiner Liste der 50 Personen, die den Planeten retten können.
Als ich später weiter
durch die Straßen laufe, wird mein Kopf wieder klarer. Mein Platz ist nicht auf
den Meeren. Mir wird ja schon angst und bange, wenn ein paar kleine
Mittelmeerwellen meine allsommerliche Fähre nach Sardinien leicht schaukeln lassen.
Paul Watson ist ein
Phänomen, keine Frage. Aber er ist nicht kopierbar. Er ist ein Unikat. Seine
Botschaft dagegen ist es, die allgemeingültig ist, die jeden erreichen kann. Die
jeden erreichen sollte.
„Wir sind nur die
Passagiere auf diesem Planeten“, hat er gesagt da im Schatten der Bäume an der
Siegessäule in Berlin und die schwarzen Sea Shepherd-Fahnen mit dem Totenkopf
und dem Enterhaken wehten dazu im Wind und über den Menschen, die gebannt
seinen Worten lauschten: „und wenn wir die Crew töten, die Natur, dann töten
wir letzten Endes uns selbst.“
Der Enterhaken ist Paul
Watsons höchsteigenes Werkzeug. Als ich zu Hause ankomme und noch einmal sein in
mein eigenes Buch gesetztes Signum betrachte –mein allererstes Autogramm-, wurde
mir auf einmal klar: mein Werkzeug ist ganz sicher nicht der Enterhaken. Es sind
vielmehr genau jene Worte, die ich in der Lage bin zu schreiben.
So herausragende
Menschen wie Paul Watson gestatten dagegen, uns zu orientieren, das Ganze zu
sehen. Sie zeigen uns eine Richtung. Und sie vermögen es, Feuer in uns zu
entfachen.
Jeder von uns hat
seinen eigenen Platz in der Welt. Jeder von uns hat seine eigenen Fähigkeiten,
seine ganz spezielle Begeisterung, jeder ist ein Unikat.
Es kommt nicht darauf
an, jemanden zu kopieren. Es kommt nicht darauf an, so wie jemand sein zu
wollen, für den man sich begeistert. Es kommt in dieser Zeit des drohenden
Kollapses unserer Lebensgrundlagen vielmehr darauf an, seine ganz eigene Kraft
für die Verbreitung der Botschaft vom Erhalt des Lebens auf
unserem Planeten einzusetzen.
Es kommt darauf an zu
verstehen, daß genau jetzt die Zeit gekommen ist, in der es heißt, endlich den
Fernseher auszuknipsen und für den Wandel der Gesellschaft weg von der
Ausbeutung der Natur das zu tun, wozu man in der Lage ist.
Und dann erinnere ich
mich wieder daran, daß Hunderttausende Menschen sich bereits auf diesen Weg
gemacht haben. Zuerst kommt die Einsicht. Dann die Umstellung. Dann das
Weitergeben der Bedeutung des Erkennens an Freunde, an Bekannte, an andere
Menschen. Wie ein Lauffeuer, das entfacht wurde. Eine Bewegung des Aufwachens
entsteht. Sie wird getragen von Hunderttausenden. Sie stehen an Ständen auf der
Straße, um Menschen für die tierfreie Ernährung zu begeistern. Sie machen
vegane Märkte auf, schreiben vegane Kochbücher, gehen auf die Straße gegen
Massentierhaltung, halten Mahnwachen vor Schlachthäusern, organisieren
Straßenfeste, vertreten ihren Standpunkt im Fernsehen.
Noch gibt es viele
Spötter oder Verteidiger des alten Systems, die sich uns in den Weg stellen. Noch
gibt es Millionen die noch immer schlafen. Noch gibt es Staaten, die
Umwelthelden wie Paul Watson an den Kragen wollen. Aber das war immer schon so
bei Umwälzungen in der Gesellschaft. Es gab immer schon die Kräfte, die ihre
Macht gegen den Zeitgeist bewahren wollten.
Doch wir sind Menschen.
Und wir wachen auf. Und wenn wir einmal aufgewacht sind, lassen wir uns nicht so einfach wieder von den Verlockungen des Konsums betäuben, auch
wenn die noch immer Schlafenden das ganz und gar nicht verstehen können und sich über Tofuwürste und Hirsebällchen lustig machen und meinen, es gäbe wichtigere Dinge im Leben
als Tier- und Umweltschutz und dabei verkennen, daß diese Dinge nicht mehr
existieren werden, wenn die Lebensgrundlagen zerstört sind.
Wir haben große
Fähigkeiten. Wer aufgewacht ist, beginnt sie zu spüren. Wir tragen ungeheure
Liebe in uns. Ungeheure Liebe für die Natur, für das Leben. Wir sind zu ungeheuren Leistungen fähig.
Und wer das verstanden
hat, begreift auch wie wichtig es ist, Demut zu lernen. So wie Paul Watson, als er sagt: "Es geht nicht um mich. Es geht um die Bewohner der Meere. Es geht um unsere Natur."
Denn letztlich wir sind
nur die Passagiere. Wir tun es für uns.
Marsili Cronberg