„Diese Eier könnte man doch aber essen, oder?“ rief ich
Karin zu, die noch am Tor stand, „das sind doch nun wirklich Eier von
glücklichen Hühnern.“
Karin schüttelte den Kopf. „Das sind keine glücklichen
Hühner, Marsili.“ Als ich sie fragend ansah, seufzte Karin und machte eine
ausladende Handbewegung: „stell Dir mal vor, diese Hühner legen jeden Tag Eier.
Was meinst Du, wie oft Hühner natürlicherweise Eier legen?“
Ich zuckte mit den Schultern.
„Einmal im Jahr. So wie alle anderen Vögel auch. Das hier …“
und dann zeigte sie auf ein Huhn, das gerade leise gackernd um die Ecke bog „…
das hier sind keine glücklichen Hühner, glaub mir. Das sind hochgezüchtete
Legemaschinen.“
Solche Aha-Momente haben mich durch ein mich bewegendes Jahr
2011 begleitet. Unsere ganze Realität ist ein selbstgebautes Konstrukt, das
wurde mir bewusst. Hühner legen jeden Tag ein Ei und Sonntags auch mal zwei, wie es in einem alten Schlager so schön heißt. Und die Eier sind natürlich für uns. Für was denn sonst?
Wir leben in unserem gemalten Kosmos bequem wie in einem warmen gemütlichen Häuschen und definieren die Welt mit unseren Begriffen. Was bleibt uns auch anderes übrig? Wir haben nur unsere Sinne, unsere Augen, unsere Ohren, unser Gehirn. Mit diesen Organen nehmen wir ein paar Informationen auf, eine winzige Messerspitze voll mit Daten, Gefühlen, Eindrücken und schustern damit unser Weltbild zusammen. Hühner sind zum Eierlegen da. Nie hinterfragt ...
Wir leben in unserem gemalten Kosmos bequem wie in einem warmen gemütlichen Häuschen und definieren die Welt mit unseren Begriffen. Was bleibt uns auch anderes übrig? Wir haben nur unsere Sinne, unsere Augen, unsere Ohren, unser Gehirn. Mit diesen Organen nehmen wir ein paar Informationen auf, eine winzige Messerspitze voll mit Daten, Gefühlen, Eindrücken und schustern damit unser Weltbild zusammen. Hühner sind zum Eierlegen da. Nie hinterfragt ...
Man könnte es als Arroganz bezeichnen, unsere Wahrnehmung
als das echte Abbild der Realität anzunehmen. Doch im Grunde macht das jedes
Lebewesen so. Wenn ein Wildschwein die Macht über die Welt hätte, würde es die
Welt umgraben und zu einer riesigen Schlammsule machen.
Das Gefährliche, das wirklich Gefährliche an uns Menschen
ist unsere Stärke. Keine höhere Macht ist da, die uns daran hindert, uns die Welt Untertan
zu machen, eine Tierart nach der anderen auszurotten, die in Äonen gewachsenen
wunderschönen Regenwälder abzuholzen, die Meere auszuräubern, die unglaubliche
Schönheit des Planeten zu zerstören. Es ist niemand da, der uns in die
Schranken weisen kann. Und das lässt uns glauben, dass wir im Recht sind. Das
lässt uns den Glauben: „Alles ist in Ordnung.“
Ich habe in diesem Jahr viele Menschen kennen gelernt, die
begonnen haben, unsere Realität zu hinterfragen. Es ist schwer, die Schleier zu
heben. Es ist schwer, die ungeschminkte Realität zu erkennen, sie richtig zu
deuten. Es ist verbunden mit Schmerz, mit Rückschlägen. Oft hindert Übereifer,
ein zu dickes Ego, oft vergessen einige, dass ihr Abbild von der Welt auch nur
ein zusammengeschraubtes ist. Heiße Herzen können auch verletzen, auch
untereinander. Immerhin kämpfen sie gegen ein gewaltiges Monster, das in uns
allen steckt, das seit Jahrhunderten ungehindert wachsen und wuchern konnte. Es
ist die Illusion, dass das Recht des Stärkeren über den Schwächeren, mit dem
wir uns die Welt zurechtbiegen, ein moralisches Recht ist. Dieser fatale Glaube an unsere hohe Moralität liefert die Legitimation für die Zerstörung der
Natur und der Lebensgrundlagen der uns folgenden Generationen. Wir glauben,
dass wir moralisch handeln. Ein gewaltiger, vielleicht der gewaltigste Irrtum,
der jemals auf diesem Planeten sein Unwesen getrieben hat. Dieser Irrglaube
macht uns so gefährlich wie ein auf die Erde zurasender Komet.
Das Huhn. Ich habe mich geschämt in diesem Moment, in dem
mir wieder ein Stück mehr aufgegangen ist, was wir Menschen angerichtet haben.
Eine ganze Tierart wurde aus dem Zyklus des natürlichen Lebens herausgerissen,
wurde umgestülpt, abgerichtet auf die Bedürfnisse der Menschen. Und das ohne
jede Rücksicht. Das Huhn wurde zu einem Produkt. Es gibt Patente auf
Turbohühner. Es gibt Kongresse, Messen, wo die neuesten Produkte vorgestellt
werden. „Das Huhn der Produktlinie XY-0815 hier legt noch ein Ei in der Woche
mehr, meine sehr verehrten Damen und Herren!“ Und bei Wikipedia wird die Menge
der genutzten Hühner in Tonnen angegeben. Nicht in Stückzahl.
Ich unterhielt mich vor einigen Tagen mit Dieter, einem Pensionär,
der in seiner Tätigkeit als Fachmann für medizinische Instrumente Einblick in
Forschungsstätten hatte. Er erzählte mir, wie ihn noch immer die Bilder quälen
von Tieren, die in Tierversuchen misshandelt werden. Affen mit Drähten am
offenen Kopf und gewaltvoll offengehaltenen Augenlidern, Beagels, an denen
Reizgas getestet wurde. Die meisten Versuche dienten militärischen Zwecken,
meinte er.
Und wenn Menschen diese Grausamkeiten aufdecken und anprangern,
bekommen sie es mit der Gewalt der Staatsmacht zu tun. Karin Mück von Hof
Butenland kann ein Lied davon singen… Menschen wie sie decken Illusionen auf. Und genau deshalb
werden sie vom großen Illusionator Staat für gefährlich gehalten und bekämpft.
Dabei ist in unserer Zeit das Edelste was ich mir vorstellen
kann, die Menschheit von den gefährlichen Illusionen zu befreien. Wir sind nicht friedlich.
Frieden steckt zweifellos als großer Wunsch in den Menschen. Mehr als ein
Wunsch ist es aber noch nicht. „Aber da draußen ist doch Frieden!“ werden
einige sich verteidigen. Jahaa, da ist Frieden, aber er gilt nur einer kleinen
Handvoll, er gilt nur den Starken. Schon innerhalb der eigenen Rasse sind die
Grenzen gezogen. Ganze Länder versinken in Kriegen.
Wir hier haben Frieden. Nur für uns. Schon ein paar hundert
Meter weiter werden die ersten Tiere in Ställen gehalten. Für sie gilt der
Frieden nicht bzw. nur so lange, bis sie schlachtreif sind. Schon ein paar
Kilometer weiter stehen riesige Masthallen, ein paar Tausend Kilometer weiter
werden je Minute bis zu 30 Hektar Regenwald abgeholzt. Ein paar Tausend
Kilometer weiter fallen Bomben auf Schwache, deren Lebensgrundlage durch die
hemmungslose Ausbeutung durch die reichen Länder des Westens zerstört ist und
die sich nicht mehr anders zu helfen wissen als durch Gegengewalt. In Somalia
sollen die bösen Piraten nun auch an Land bekämpft werden. Es sind einstige
Fischer, deren Lebensgrundlagen durch ungezügelten Wildfang europäischer
Fangflotten zerstört wurden.
Unsere Illusion von Frieden. Vor einigen Jahren ist das mit
großem Abstand gewaltvollste Jahrhundert zu Ende gegangen. Das Jahrhundert ist
zu Ende, die Gewalt ist es nicht. Sie hat sich nur verlagert und wurde aus
unserer Wahrnehmung gedrängt. Wir haben noch immer Blut an den Händen. Es fließt nur nicht mehr vor unseren Augen.
Unser Frieden. Er wird mit Gewalt genährt. Er nährt sich von
Milliarden Toten, von unfassbarer Umweltzerstörung, er hinterlässt einen unglaublich
hohen Berg an Schuld. Unser Frieden ist ein Monster, das vor uns -vor seinem Ernährer- ein
freundliches Gesicht macht. Doch er ist hässlich, so unglaublich hässlich. Dessen
müssen wir uns bewusst werden. Dies müssen wir ins Bewusstsein der Menschen
rufen, die im Grunde ihres Herzens unschuldig sind, die Frieden wollen und mit
ihrem Lebenswandel das Monster unbewusst weiter füttern. Wir müssen die
Hintergründe des angeblichen Friedens entlarven, auch wenn uns dabei Wind ins
Gesicht bläst. Wir müssen die Schleier der Illusion niederreißen, die ganze
glitzernde Medien- und Werbewelt, die Rechtfertigungen, die Gewalt schon immer
begleitet haben, wir müssen allen erzählen, dass ein Huhn niemals jeden Tag ein
Ei legen würde, wenn wir es nicht zu diesem bedauernswerten Geschöpf
herangezüchtet hätten.
Das Gute ist in den Menschen. Ich glaube daran. Die Schale
ist hart, nicht der Kern. Wir müssen das Gute erwecken, es hat eine ungeheure
Kraft. Es ist eine gewaltige Aufgabe, vor der wir stehen. Es ist DIE Aufgabe
unserer Zeit.
Ich weiß, dass es gelingen wird, denn ich muss im Jahr 2200
nur in Geschichtsbücher sehen. Und deshalb weiß ich auch, dass die Zeit gekommen
ist, in der die Stimmen so laut werden, dass sie endlich ernst genommen werden.
Es ist das Jahr 2012. Es ist das Jahr, in dem die drängende
Notwendigkeit des Niederreißens der Illusion das Bewusstsein der Massen
erreichte. Es ist das Jahr, in dem das Ruder in die Richtung gerissen wurde, in
der die Menschheit noch eine Zukunft haben kann und ich hier im Jahr 2200 noch
in der Lage bin, über vergangene Ereignisse zu berichten.