Freitag, 30. Dezember 2011

Unsere Illusion von Frieden

Bevor wir nach 3 wundervollen Tagen auf Hof Butenland wieder nach Hause fahren wollten, suchte ich zuerst unser Auto ab. Die Räder. Jan meinte, dass die Hühner an den Autorädern gern Eier ablegen würden und tatsächlich fand ich ein kleines Gelege unter dem Vorderrad.

„Diese Eier könnte man doch aber essen, oder?“ rief ich Karin zu, die noch am Tor stand, „das sind doch nun wirklich Eier von glücklichen Hühnern.“

Karin schüttelte den Kopf. „Das sind keine glücklichen Hühner, Marsili.“ Als ich sie fragend ansah, seufzte Karin und machte eine ausladende Handbewegung: „stell Dir mal vor, diese Hühner legen jeden Tag Eier. Was meinst Du, wie oft Hühner natürlicherweise Eier legen?“

Ich zuckte mit den Schultern.

„Einmal im Jahr. So wie alle anderen Vögel auch. Das hier …“ und dann zeigte sie auf ein Huhn, das gerade leise gackernd um die Ecke bog „… das hier sind keine glücklichen Hühner, glaub mir. Das sind hochgezüchtete Legemaschinen.“

Solche Aha-Momente haben mich durch ein mich bewegendes Jahr 2011 begleitet. Unsere ganze Realität ist ein selbstgebautes Konstrukt, das wurde mir bewusst. Hühner legen jeden Tag ein Ei und Sonntags auch mal zwei, wie es in einem alten Schlager so schön heißt. Und die Eier sind natürlich für uns. Für was denn sonst? 

Wir leben in unserem gemalten Kosmos bequem wie in einem warmen gemütlichen Häuschen und definieren die Welt mit unseren Begriffen. Was bleibt uns auch anderes übrig? Wir haben nur unsere Sinne, unsere Augen, unsere Ohren, unser Gehirn. Mit diesen Organen nehmen wir ein paar Informationen auf, eine winzige Messerspitze voll mit Daten, Gefühlen, Eindrücken und schustern damit unser Weltbild zusammen. Hühner sind zum Eierlegen da. Nie hinterfragt ...

Man könnte es als Arroganz bezeichnen, unsere Wahrnehmung als das echte Abbild der Realität anzunehmen. Doch im Grunde macht das jedes Lebewesen so. Wenn ein Wildschwein die Macht über die Welt hätte, würde es die Welt umgraben und zu einer riesigen Schlammsule machen.

Das Gefährliche, das wirklich Gefährliche an uns Menschen ist unsere Stärke. Keine höhere Macht ist da, die uns daran hindert, uns die Welt Untertan zu machen, eine Tierart nach der anderen auszurotten, die in Äonen gewachsenen wunderschönen Regenwälder abzuholzen, die Meere auszuräubern, die unglaubliche Schönheit des Planeten zu zerstören. Es ist niemand da, der uns in die Schranken weisen kann. Und das lässt uns glauben, dass wir im Recht sind. Das lässt uns den Glauben: „Alles ist in Ordnung.“

Ich habe in diesem Jahr viele Menschen kennen gelernt, die begonnen haben, unsere Realität zu hinterfragen. Es ist schwer, die Schleier zu heben. Es ist schwer, die ungeschminkte Realität zu erkennen, sie richtig zu deuten. Es ist verbunden mit Schmerz, mit Rückschlägen. Oft hindert Übereifer, ein zu dickes Ego, oft vergessen einige, dass ihr Abbild von der Welt auch nur ein zusammengeschraubtes ist. Heiße Herzen können auch verletzen, auch untereinander. Immerhin kämpfen sie gegen ein gewaltiges Monster, das in uns allen steckt, das seit Jahrhunderten ungehindert wachsen und wuchern konnte. Es ist die Illusion, dass das Recht des Stärkeren über den Schwächeren, mit dem wir uns die Welt zurechtbiegen, ein moralisches Recht ist. Dieser fatale Glaube an unsere hohe Moralität liefert die Legitimation für die Zerstörung der Natur und der Lebensgrundlagen der uns folgenden Generationen. Wir glauben, dass wir moralisch handeln. Ein gewaltiger, vielleicht der gewaltigste Irrtum, der jemals auf diesem Planeten sein Unwesen getrieben hat. Dieser Irrglaube macht uns so gefährlich wie ein auf die Erde zurasender Komet.

Das Huhn. Ich habe mich geschämt in diesem Moment, in dem mir wieder ein Stück mehr aufgegangen ist, was wir Menschen angerichtet haben. Eine ganze Tierart wurde aus dem Zyklus des natürlichen Lebens herausgerissen, wurde umgestülpt, abgerichtet auf die Bedürfnisse der Menschen. Und das ohne jede Rücksicht. Das Huhn wurde zu einem Produkt. Es gibt Patente auf Turbohühner. Es gibt Kongresse, Messen, wo die neuesten Produkte vorgestellt werden. „Das Huhn der Produktlinie XY-0815 hier legt noch ein Ei in der Woche mehr, meine sehr verehrten Damen und Herren!“ Und bei Wikipedia wird die Menge der genutzten Hühner in Tonnen angegeben. Nicht in Stückzahl.

Quelle: www.photomakers.org


Ich unterhielt mich vor einigen Tagen mit Dieter, einem Pensionär, der in seiner Tätigkeit als Fachmann für medizinische Instrumente Einblick in Forschungsstätten hatte. Er erzählte mir, wie ihn noch immer die Bilder quälen von Tieren, die in Tierversuchen misshandelt werden. Affen mit Drähten am offenen Kopf und gewaltvoll offengehaltenen Augenlidern, Beagels, an denen Reizgas getestet wurde. Die meisten Versuche dienten militärischen Zwecken, meinte er.

Und wenn Menschen diese Grausamkeiten aufdecken und anprangern, bekommen sie es mit der Gewalt der Staatsmacht zu tun. Karin Mück von Hof Butenland kann ein Lied davon singen… Menschen wie sie decken Illusionen auf. Und genau deshalb werden sie vom großen Illusionator Staat für gefährlich gehalten und bekämpft.

Dabei ist in unserer Zeit das Edelste was ich mir vorstellen kann, die Menschheit von den gefährlichen Illusionen zu befreien. Wir sind nicht friedlich. Frieden steckt zweifellos als großer Wunsch in den Menschen. Mehr als ein Wunsch ist es aber noch nicht. „Aber da draußen ist doch Frieden!“ werden einige sich verteidigen. Jahaa, da ist Frieden, aber er gilt nur einer kleinen Handvoll, er gilt nur den Starken. Schon innerhalb der eigenen Rasse sind die Grenzen gezogen. Ganze Länder versinken in Kriegen.

Wir hier haben Frieden. Nur für uns. Schon ein paar hundert Meter weiter werden die ersten Tiere in Ställen gehalten. Für sie gilt der Frieden nicht bzw. nur so lange, bis sie schlachtreif sind. Schon ein paar Kilometer weiter stehen riesige Masthallen, ein paar Tausend Kilometer weiter werden je Minute bis zu 30 Hektar Regenwald abgeholzt. Ein paar Tausend Kilometer weiter fallen Bomben auf Schwache, deren Lebensgrundlage durch die hemmungslose Ausbeutung durch die reichen Länder des Westens zerstört ist und die sich nicht mehr anders zu helfen wissen als durch Gegengewalt. In Somalia sollen die bösen Piraten nun auch an Land bekämpft werden. Es sind einstige Fischer, deren Lebensgrundlagen durch ungezügelten Wildfang europäischer Fangflotten zerstört wurden.

Unsere Illusion von Frieden. Vor einigen Jahren ist das mit großem Abstand gewaltvollste Jahrhundert zu Ende gegangen. Das Jahrhundert ist zu Ende, die Gewalt ist es nicht. Sie hat sich nur verlagert und wurde aus unserer Wahrnehmung gedrängt. Wir haben noch immer Blut an den Händen. Es fließt nur nicht mehr vor unseren Augen.

Unser Frieden. Er wird mit Gewalt genährt. Er nährt sich von Milliarden Toten, von unfassbarer Umweltzerstörung, er hinterlässt einen unglaublich hohen Berg an Schuld. Unser Frieden ist ein Monster, das vor uns -vor seinem Ernährer- ein freundliches Gesicht macht. Doch er ist hässlich, so unglaublich hässlich. Dessen müssen wir uns bewusst werden. Dies müssen wir ins Bewusstsein der Menschen rufen, die im Grunde ihres Herzens unschuldig sind, die Frieden wollen und mit ihrem Lebenswandel das Monster unbewusst weiter füttern. Wir müssen die Hintergründe des angeblichen Friedens entlarven, auch wenn uns dabei Wind ins Gesicht bläst. Wir müssen die Schleier der Illusion niederreißen, die ganze glitzernde Medien- und Werbewelt, die Rechtfertigungen, die Gewalt schon immer begleitet haben, wir müssen allen erzählen, dass ein Huhn niemals jeden Tag ein Ei legen würde, wenn wir es nicht zu diesem bedauernswerten Geschöpf herangezüchtet hätten.

Das Gute ist in den Menschen. Ich glaube daran. Die Schale ist hart, nicht der Kern. Wir müssen das Gute erwecken, es hat eine ungeheure Kraft. Es ist eine gewaltige Aufgabe, vor der wir stehen. Es ist DIE Aufgabe unserer Zeit.

Ich weiß, dass es gelingen wird, denn ich muss im Jahr 2200 nur in Geschichtsbücher sehen. Und deshalb weiß ich auch, dass die Zeit gekommen ist, in der die Stimmen so laut werden, dass sie endlich ernst genommen werden.

Es ist das Jahr 2012. Es ist das Jahr, in dem die drängende Notwendigkeit des Niederreißens der Illusion das Bewusstsein der Massen erreichte. Es ist das Jahr, in dem das Ruder in die Richtung gerissen wurde, in der die Menschheit noch eine Zukunft haben kann und ich hier im Jahr 2200 noch in der Lage bin, über vergangene Ereignisse zu berichten.

Marsili Cronberg

Wer mehr von mir lesen will:
hier gibts "Wie ich verlernte, Tiere zu essen"