Sonntag, 27. Februar 2011

Anwälte der Tiere

Ich traf Madeleine bei einem Straßenfest, es war vor vielen Jahren. Ein lärmender Zug schob sich durch Köln, frenetisch gefeiert von den Menschen an der Straße, freizügig und bunt. Der Christopher Street Day in Köln ist ein laszives Festmahl. Ganz egal, zu welchem Geschlecht man sich hingezogen fühlt, dieser Karneval im Sommer blüht durch seine ungenierte Verspieltheit.

Madeleine lehnte an einer Hauswand. Hinter Tanzenden und Lärmenden, unbeteiligt, gesenkte Schultern, unsichere Augen und die Haare als Schutz vor zu tiefen Blicken ins Gesicht gezogen.

Sie ist schön. Sie ist sehr schön, denke ich.

Ein Augenaufschlag reißt mich aus den Gedanken. Wie können Menschen spüren, dass sie angesehen werden? Meine Kamera sinkt zu Boden. Und dann wende ich mich ab und tue so, als hätte sie mich nicht berührt. Doch lange halte ich diesem Versteckspiel nicht stand.

Es wird still, als ich mich neben sie an die Wand lehne. Ohne viele Worte verstehen wir einander. Neben uns kreischen ein paar Mädchen, aber es bewegt mich nicht mehr. Ihre Lippen hauchen mich an, flüstern ein paar schüchterne Worte. Madeleine ist älter als ich, ein paar Jahre. Ihre Augen sind dunkel und tief, ihre schmalen Finger greifen nach meinem Anhänger aus Silber und als ich ihre Haare berühre und sie den Kopf zu mir neigt, küssen wir uns zum ersten Mal.

Und dann ein schmales Lächeln. Ihre Augen senkt sie, ihre Zähne beißen auf die Unterlippe und dann schluckt sie, als wolle sie gleich etwas sagen, aber sie sagt es nicht mit Worten, sondern durch ihre Hand, die sich an meinem Rücken entlang schiebt.

Christopher Street Day in Köln kann ein so gewaltiges Sinnspektakel werden, dass sich selbst verschlossene Menschen für einen Augenblick lang öffnen. Man kann weit gehen an diesem Tag. Viel weiter als sonst.

Als ich Madeleines Wohnung am frühen Morgen wieder verließ, war es kalt. Ich werde niemals darüber reden, was sie mir in den Stunden zuvor anvertraute und warum wir uns trotz berauschender Intimität nie wieder sahen. Das Gemisch aus Dankbarkeit und Schmerz wühlte mich tagelang auf. Ich hatte mich in den Stunden der Wärme ihrer Haut und ihrer Seele in sie verliebt.

Ich fragte mich manches Mal, ob ich der einzige Mensch war, dem sie die bittere Lebensentscheidung anvertraute, vor der sie sich wähnte. Und da ich eine Antwort nie mehr bekommen werde, wuchs sie zu, diese Wunde.

Madeleine liebte Tiere. Leidenschaftlich setzte sie sich für Tierrechte ein. Wenn man die Schmerzen der Tiere wie seine eigenen spürt, dann sieht man die Welt mit anderen Augen. Dann trifft jede Verspottung mitten ins Herz. Wenn man sich für Tiere engagiert, dann weiß man um die Härte der Gesellschaft in diesem Thema. Jedes Auslachen wird zur Nadel, jeder gezeigte Vogel zur Ohrfeige. Jedes „Tiere sind zum essen da“ trifft die Seele. Und es schmerzt umso mehr, wenn man gegen geliebte Menschen diskutieren muss.

Und doch waren es nicht diese Wunden, die ihre Seele brachen.

Im Februar diesen Jahres wartete ich in einem gemütlichen veganen Restaurant in Berlin Kreuzberg auf meine Verabredung. Mahi Klosterhalfen betrat das Viasko punktgenau zum vereinbarten Termin. Keine Minute zu spät, keine zu früh. Im Schlepptau hatte er seine Mitarbeiterin Silja Kallsen. Das Dreamteam der Albert Schweitzer Stiftung für unsere Mitwelt.

Ihr Einsatz für Tierrechte ist geprägt von Sachlichkeit und Pragmatismus. Und welche großartigen Erfolge sie bereits verbuchen können! Mahi ist es mit zu verdanken, dass in Deutschland seit dem Jahr 2010 praktisch keine Käfigeier mehr verkauft werden. Und wenn er davon erzählt, dann tut er das mit so großer Bescheidenheit, dass ich erst nach und nach begreife, was für große Verdienste dieser Mann im Tierschutz bereits hat. Und dann erzählt er, wie er zuerst die Mensa der Düsseldorfer Uni durch Unterschriftsammlungen und Beharrlichkeit käfigeifrei bekam. Er erzählt davon, wie er die Kampagne auf andere Universitäten ausweitete, wie sie schließlich auf Supermarktketten übergriff, wie eine Kette nach der anderen folgte und er erzählt das alles mit so viel Leidenschaft, dass er minutenlang sein angebissenes Seitanbaguett in der Luft hält und einfach nicht mehr abbeißen will.

Dann erzählt er, wie er durch das Thema Käfigeier mit Unternehmen ins Gespräch kommt, wie er von Entscheidungsträgern respektiert wird und damit Türen für vegetarische und vegane Konzepte öffnet und fast will ich ihn ermuntern, das Essen nicht zu vergessen, aber ich verkneife es mir. Immer wieder hält er kurz inne, immer wieder zuckt seine Hand zum Mund, um dann doch wieder abzusetzen, damit der Mund weitererzählen kann. Dieser Mann brennt vor Leidenschaft für die Tierrechte. Und ich beneide ihn dafür.

Als er endlich wieder in sein Baguette beißt, atme ich erleichtert auf. Und mir bleibt nichts anders, als ihm meine Bewunderung zu gestehen. Und während wir über den Tierschutz reden, fällt nicht ein einziges Mal das Wort Fleischfresser. Schon gar nicht Mörder. Mahi spricht von Menschen. Nicht ein Wort, das auf Geringschätzung schließen lässt, nicht ein einziges wütendes Gefühl trotz seiner Einblicke in eine grausame Welt. Das ist seine ganz große Stärke und während ich ihm weiter zuhöre, beschleicht mich das Gefühl, vor einem großen Mann der Zukunft zu sitzen. Vor einem über alle Parteien geachteten Diplomat für Tierrechte. Ein Held unserer Zeit.

Dann muss Mahi schon wieder weg. Er hat eine Einladung zu einer Veranstaltung, bei der Landwirtschaftsministerin Aigner spricht. Eine halbe Stunde noch rede ich mit Silja weiter und ich stelle fest, dass ihre Seele genauso schön ist wie ihr Name.

Später in der U-Bahn habe ich Zeit, die Leute zu beobachten. Ich tue dies nicht mit den Augen, ich versuche zu spüren, zu hören, zu riechen. Ein lebhaftes Gemisch aus vielen Sprachen, aus Parfum und Bierfahne. Berlin. Diese Menschen, die mit ihren Alltagsgedanken durch die Stadt in den Feierabend oder in die Kneipe fahren, diese Menschen müssen wir erreichen, denke ich. Wie wenige von ihnen werden sich Gedanken über die Folgen ihres Massentierkonsums machen? Und wie vielen würde vor Entgeisterung das Kinn nach unten klappen, wenn ich sie jetzt und hier fragen würde, ob sie Tierprodukte essen und ob sie sich schon mal Gedanken über eine Alternative gemacht hätten?

Was ist Mahis Erfolgskonzept? Zum einen ist es sein Respekt gegenüber seinen Gesprächspartnern. Er wird akzeptiert, sogar von der Nahrungsindustrie, er wird ernst genommen. Und Mahi versteht es, Menschen zu mobilisieren. 3000 Unterschriften sammelte er allein in Düsseldorf dafür, dass in der Mensa keine Käfigeier mehr verwendet würden und dafür der Essenspreis um ein paar Cent ansteigt. Ihm gelang es, das Thema zu entzünden und den Schwung zu nutzen.

Seine eigentliche Stärke jedoch liegt noch tiefer als seine Diplomatie. Sie liegt in der Offenheit für alle Wege der Tierrechtsbewegung. In seiner Offenheit gegenüber denen, die kompromisslos die vegane Lebensweise einfordern wie auch gegenüber denen, die auch Zwischenschritte begrüßen, um die Menschen vom Tierkonsum wegzuführen. Es gibt ein klares Ziel. Und es führen so viele verschiedene Wege dahin, wie es verschiedene Meinungen gibt.

Madeleine war einst eine Amazone, eine Kriegerin für Tierrechte. Mit vielen Wassern war sie gewaschen, hatte viele Kämpfe gefochten und sich trotz schwerer Verwundungen immer wieder aufraffen können. Nicht die Attacken ihrer Gegner konnten sie brechen.

Es waren die Angriffe aus den eigenen Reihen.

Seit ich durch meine Recherchen Einblick in die Tierrechtsbewegung gewann, treffe ich immer wieder auf Menschen, die mich an Madeleine erinnern. Es sind sanfte, liebe Menschen, Menschen mit großem Herz und voller Energie und ihr Herz geben sie für Tiere und dennoch haben sie Angst, aus den eigenen Reihen angegriffen zu werden. Immer wieder stoße ich auf übertriebenen Eifer, der schnell in Respektlosigkeit umschlägt und die Energien nicht nur derer raubt, die in den Streit verwickelt sind, sondern auch derer, die diese aggressiven Worte nur lesen.

Ich lese Kommentare, die sanfte Tierfreunde beleidigen, weil sie nicht die Kraft haben, über ihr Engagement hinaus noch für soziale Werte zu kämpfen. Ich lese von Kampagnen gegen Menschen, die den Schritt in den Vegetarismus wagen und nicht direkt zu Veganern werden. Organisationen werden beschimpft, weil sie für einen effektiven Einsatz für die Tiere auch mit der Tierindustrie kooperieren müssen. Menschen, deren Ziel der Tierschutz ist, rechnen sich gegenseitig vor, welche Fehler der jeweils andere bisher gemacht hat oder noch immer macht und vielleicht noch machen wird. Auf viel Selbstgerechtigkeit stoße ich. Es zählt nicht mehr das Ergebnis, für viele geht es scheinbar nur darum, das eigene Profil zu schärfen.

Ich stelle mir eine große Versammlung vor, alle anwesend, die sich vorher in den Haaren lagen und dann tritt ein unabhängiger Richter vor und fragt in die Runde: „Wer ist der Meinung, dass sein Weg der beste ist für die Tiere?“ Und jeder, der dies nicht mit reinem Gewissen bejahen kann, der halte ab sofort seine Kritik im Zaum. Und jeder, der laut ruft: „ICH!!!“, der führe als nächstes vor, wie er über Wasser laufen kann, denn er muss ein Heiliger sein.

Und dann stelle ich mir vor, wie viel Kraft die Tierrechtsbewegung hätte, wenn sie sich nicht selbst schwächen würde.

Wieviele Tiere mehr hätten gerettet werden können, wenn die Bewegung nicht durch Egos ausgebremst würde, denen es nicht gelingt, sich innerhalb der eigenen Reihen zu bremsen. Wieviele Menschen mit gutem Herz, die da draußen vor der Tür warten und sich nicht trauen, wüssten wir mehr in unseren Reihen. Wenn wir ihnen zeigen könnten, dass die Luft in der veganen Welt nicht zu dünn zum atmen ist. Wenn wir ihnen zeigen könnten, wie befreiend sie ist. Und dass es eine normale Welt ist, keine elitäre, keine unmenschliche. Niemand hat die Wahrheit gepachtet, alle machen auch Fehler und nichts ist einladender als die Normalität.

Und wie viele Menschen wüssten wir dann noch in unseren Reihen, die inzwischen erschöpft aufgegeben haben. Und dann denke ich an Madeleine. Und an ihre verlorene Hoffnung.

Dabei haben alle ein gemeinsames, ein edles Ziel: das Ende der Tierausbeutung. Was würden die stimmlosen Tiere von diesen Streits halten, wenn sie sich in diese einmischen könnten? Und wer kann sich in diesen für die Tiere so dunklen Zeiten schon anmaßen, im Besitz der Wahrheit zu sein? Wir dürfen keine Egoisten mehr sein, wir sind die Anwälte der Tiere. Den Streit tragen wir auf dem Rücken derer aus, die wir vertreten wollen. Wir müssen diesen Streit beenden. Die Zeit ist reif dafür.

Und dann träume ich von einer vereinten Bewegung. Es ist eine Vereinigung, die ihre Stärke aus gegenseitigem Respekt bezieht und die sich dadurch anziehend macht, dass sie den Menschen die sie erreichen will, die Würde lässt. Eine machtvolle Vereinigung wäre es. Eine, in der jeder seine Stärken einbringen könnte. Eine Vereinigung, die die Fehler und Angriffe der Vergangenheit verzeiht, und die sich ihrer eigenen Größe bewusst wird. Sie würde alle die zusammenrufen, deren Traum die Beendigung der Tierausbeutung ist. Sie würde nur denen beherzt den Zutritt verwehren, die Tierschutz als Vorwand für andere Ziele missbrauchen und damit die Zerrissenheit in der Vergangenheit erst schürten.

Viele bunte Gruppen hätte sie. Sie gäbe Tierschützern eine Heimat, die mit ihren Aktionen Augen öffnen. Sie nähme Vordenker für die Tierrechte von maqi auf, so sie respektvoll argumentieren. Sie besäße Diplomaten wie Mahi Klosterhalfen, leidenschaftliche Bünde wie Vegetarierbund oder die Vegane Gesellschaft. Mit Vereinigungen aus anderen Ländern würde sie sich austauschen, mit der Tierpartei Schweiz, der Veganen Gesellschaft Österreich oder dem Verein gegen Tierfabriken, um nur einige zu nennen. Erfahrene Tierrechtler hätte sie in ihren Reihen, und man würde eine Autorin wie Karen Duve nicht mehr für ihre letzte fehlende Konsequenz kritisieren, sondern dankbar den Schwung nutzen, den sie entfachte. Sie würde in die Zukunft denken und nicht nur zurückblicken.

Diese Vereinigung des gemeinsamen Traums vom Ende der Tierausbeutung würde die Energien aller engagierten Gruppen bündeln, die sich landauf, landab mit Herz für Tierrechte einsetzen. Es gibt hunderte davon, vielleicht tausende. Die leidenschaftliche Peta wäre dabei, Greenpeace, schließlich sogar Parteien wie die Grünen. Und man würde sich aussprechen und Fehler der Vergangenheit auf sich beruhen lassen. Und man würde sich die Hand reichen und das gegenseitige Gerangel endlich beenden. Und die gemeinsame Basis wäre zunächst der Kampf gegen jegliche Form der Massentierhaltung. Ohne Wenn und Aber.

Es gäbe so viele Gruppen, die sich organisieren und untereinander mit Respekt kommunizieren, dass die von dieser Vereinigung ausgehende Kraft die Debatte für Tierrechte in den Medien und dann im ganzen Volk emotional entzünden könnte. Ein entfachtes Feuer der Herzen.

Und dann träume ich davon, wie diese friedliche Bewegung die Millionen Menschen abholt, die längst bereit sind für den Schritt, den Tierkonsum zu beenden. Und dann werden auch die Menschen mitgerissen, die andere Probleme haben, als sich Gedanken über Tierrechte zu machen. Und sie werden nicht mit Moralkeulen erschlagen, wenn sie nur schrittweise voranschreiten, sondern es wird ihnen geholfen, den Weg zu finden.

Bald wäre die Medienmacht der Konzerne gebrochen und deren Lügen entlarvt. Den Menschen würde offenbar werden, welch grausame und gefährliche Folgen der Massentierkonsum für alle hat. Gegen alle wütenden Angriffe der Landwirtschaftsindustrie würde die Bewegung bald bestehen können und schließlich durch ihre Macht auch die Politik zum Umlenken zwingen.

Und dann träume ich weiter. Ich träume davon, wie von dieser Bewegung des Volkes der Impuls ausgeht, über die Beendigung der Tierausbeutung hinauszudenken. Ich stelle mir vor, wie die Grundlagen geschaffen werden für einen Wandel der Gesellschaft. Sie macht sich auf, eine Gesellschaft zu werden, die sich von der Ausbeutung der Schwachen durch die Starken entfernt und wieder echte Achtung vor ihrer Mitwelt und vor sich selbst lernt. Sie wird zu einer Gesellschaft, die ihre Verantwortung für die Zukunft wieder ernst nimmt.

Es ist ein Traum. Es ist der Traum, den gordischen Knoten zu lösen. Doch wir brauchen keinen Alexander, der einen solchen nur mit grausamer Gewalt zu zerschlagen vermochte. Wir können den Knoten nur mit Vergebung und gegenseitigem Respekt entwirren. Und dadurch, die Herzen der Menschen zu gewinnen. Und durch die schiere Masse stark zu werden.

Du kannst sagen, ich wäre ein Träumer, aber ich bin nicht allein. Das sang John Lennon einst in Imagine. Und diese Worte wiederhole ich heute. Und ich weiß, dass viele Menschen meinen Traum teilen.

Tierschützer und Tierrechtler sind Anwälte der Tiere. Sie sind Anwälte der Zukunft. Menschen, die Tierausbeutung ablehnen, sind es ebenso. Jeder, der sich einen Ruck gibt und Tierprodukte meidet, gehört dazu. Selbst wenn er es im Stillen tut. Ganz für sich.

Es ist nur ein Traum. Gesellschaftliche Wandel beginnen stets mit Träumern.

Und dann denke ich wieder an Madeleine. Vergessene Gefühle tauchen auf dabei. Ich weiß nicht, ob sie ihren bitteren Lebensentschluss wahr gemacht hat. Ich kann mir keine Vorwürfe machen, denn manchmal sind alle Türen vernagelt. Doch ich glaube daran, dass sie sich wieder gefangen hat. Tief in ihrem Herz war sie stark. Vielleicht haben ihr auch meine Worte geholfen, die ich ihr zum Abschied hinterließ. Auf einen Zettel kritzelte ich sie und warf ihn in den Postkasten, nachdem ich eine Stunde lang im Treppenhaus um sie geweint hatte:

Sieh in den Spiegel.
Sieh in Deine großen, schönen Augen.
Und verstehe, wer Du wirklich bist
Wie kostbar
für die Liebe.

Montag, 14. Februar 2011

Liebeslied - Klagelied

Heute werde ich gehen.
Diese Welt verlassen.
Die Nachbarn werden Augen machen, wenn sich auf einmal unser Garten auftut und ein riesiges glänzendes Vehikel aus der Erde wächst. Sie werden ohnmächtig werden vor Schreck. Und wenn sie aufwachen, werde ich nicht mehr da sein. Ein gewaltiges tiefes Loch bleibt zurück.

Man wird debattieren. Es wird verschwommene Fotos von meinem Abflug geben, Augenzeugenberichte. Man wird vertuschen wollen.
Doch dann bin ich längst nicht mehr da.
Habe mich verabschiedet aus der Welt.
______

Als ich heute Nacht von meiner Geliebten träumte, glitten ihre Finger aus meiner Hand.
Ich wollte sie halten, schrie nach ihr.
Vergebens.
Als ich heute Nacht von ihr träumte, verlor ich sie.
Meine Geliebte.
In der Valentinsnacht.

Ihre Klagen nur hab ich in meinen Ohren:

Ihr Menschen seid keine Außerirdischen! rief sie zu mir.
Ihr wohnt nicht nur auf diesem Planeten, ihr seid aus ihm erwachsen!
Ihr seid aus mir erwachsen wie jeder Grashalm, jeder Vogel, jeder Stein, jeder Bär und jeder Schmetterling.
Warum nur glaubt ihr, euch selbst erschaffen zu haben?
Und alles was ihr erschafft, ist auch ein Teil von mir. Warum vergesst ihr das?

Und dann strich sie über meine Haare und wurde für einen Moment sanft dabei:

Viele sagen: ich hasse die Menschen.
Viele sagen: der Mensch ist ein Virus, ein Parasit, weil er die Erde zerstört.
Doch sieh mich an. Sieh mich bitte an.
Wie oft muss ich meine Liebe zu Dir denn noch beweisen?
Wieviel muss ich noch ertragen, damit Du meine Rufe verstehst:
Ich hasse Dich nicht! Du bist aus mir erwachsen. Ich nähre Dich. Ich liebe Dich. Ich opfere mich für Dich. Bitte sieh endlich, wie ich blute für Dich. Sieh was ich hergebe für Dich und sieh meine Tränen!

Und ich sah ihre Tränen.

Dann warf sie mich um. Mit einem einzigen Hauch ihres Zorns. Und die Stimme der Zürnenden wurde hart:

Andere sagen: ihr Menschen seid intelligent und deshalb beherrscht ihr die Natur. Sie sagen: ihr Menschen seid die Krone der Schöpfung.
Doch sieh Dich an. Sieh Dich bitte an!
Wieviele Qualen muss ich denn noch leiden?
Wieviel muss ich erdulden, damit Du endlich meine Rufe hörst:
Pass auf was Du tust! Ich gab Dir ein scharfes Schwert in die Hand. Doch Du schlägst um Dich wie ein übermütiges Kind. Gebe Acht! Muss es wirklich soweit kommen, daß Du Dich selbst damit enthauptest? Sieh, welche Wunden Du mir zugefügt hast!

Und ich sah ihre Wunden.

In meinem Traum.

Und beim ersten Sonnenstrahl, der meinen Traum beendete, Liebste
Beim ersten Glitzern Deiner tiefen und traurigen Augen,
nach einer stillen, verwunschenen Nacht,
und dem ersten Schatten, der über Deine Wange strich,
und Dein wehmütiges Lächeln eingrub
in meine Träume
bist Du gegangen

Und dies ist mein trauriges Lied an die verlorene Liebe.
_____

Da draußen in meinem Garten, vergraben seit vielen Jahrzehnten, da wartet mein Schiff. Ich packe meinen schicken hellblauen Koffer, stopfe ihn lustlos mit Socken voll.
Ein paar Stunden noch.
Dann ist sie vorbei.
Meine Mission.
Gescheitert.

Der Kosmos macht sich um unsere Zeit keine Gedanken. 
Was sind schon ein paar Tausend Jahre?
Was sind schon ein paar Tausend Tränen?
Wir haben uns hoffnungslos verrannt.

Es klingelt an der Tür. Meine Tochter kommt nach Hause. Sie strahlt. Sie weiß noch nicht, wer wir in Wirklichkeit sind. Sie weiß nicht, was ich vorhabe. Dann übermannt mich die Trauer. Ich kann nicht gehen. Ich kann nicht gehen. 

Und so erwache ich.
______

Manchmal dauert das Erwachen aus einem Traum Stunden. Manchmal torkelt man durch den Tag und findet nur langsam aus den Träumen der Nacht.

Und manchmal tut es weh, sehr weh, in der Realität zu erwachen.
Ist es ein Traum, daß wir kein Geschöpf des Zufalls sind, sondern der Liebe?

Und was haben wir aus diesem unendlich wertvollen Geschenk gemacht?
Ist nicht der größte Liebesbeweis, in dieses Leben geboren zu werden? Als Mensch?
_______

Unsere Mitgeschöpfe, die schon viele Millionen Jahre auf der Erde existieren, haben wir innerhalb von ein paar Jahrzehnten zu Produkten degradiert, denen wir einen grässlichen Namen geben: „Nutztiere“
Wir haben diese „Nutztiere“ für unsere Belange deformiert. Haben sie zur reinen Nahrung umfunktioniert. Zum Dank dafür schenken wir ihnen unendliche Leiden. 

Ist es ein Traum, daß die Natur über unsere Torheit weint?

In diesen Tagen wurde von einem öffentlichen Sender eine Videodokumentation einer Tierschutzorganisation abgelehnt. Sie zeigte, wie in einem Schlachthof Rindern bei vollem Bewusstsein die Bäuche aufgeschnitten und Ohren und Füsse abgeschnitten werden. Begründung der Ablehnung: Man könne diese Bilder den Fernseh-Zuschauern nicht zumuten.

Ist es ein Traum, daß der Zorn der Natur mächtiger und mächtiger wird?

In diesen Tagen verkündet das statischische Bundesamt in einer nüchternen Meldung, daß im letzten Jahr in Deutschland ein neuer Schlachtrekord aufgestellt wurde. 302.000.000 Kilogramm MEHR Fleisch als im Vorjahr. 8.000.000.000 Kilogramm Fleisch insgesamt.

Ist es ein Traum, daß wir zu blutrünstigen Monstern geworden sind?

In diesen Tagen wird in der Bundesregierung das neue Tierschutzpaket diskutiert.
In diesem Paket sind so geringe Verschärfungen enthalten, daß sie beschämend sind, wenn man um die wirklichen Zustände hinter den Betonmauern der Tierproduktionsstätten weiß.
Dennoch erbitterter Widerstand von Seite der Agrarindustrie: „Ich habe keinerlei Verständnis dafür, dass sich ein Fachministerium auf eine populistische Tierschutzdebatte einlässt ...“ Der CDU-Bundestagsabgeordnete der dies äußerte fügte an, sich in Berlin gegen das Tierschutzpaket von Ministerin Aigner zur Wehr zu setzen.

Ist es ein Traum, daß unsere Fähigkeit zu Lieben, verloren ging?

In diesen Tagen wird Hof Butenland bedroht.
Hof Butenland ist ein Bauernhof, bei dem Tiere einfach das tun dürfen, wofür sie erschaffen wurden: leben. Doch in der Definition der Bundesregierung sind es „Nutztiere“.
Dem Veterinäramt ist Hof Butenland deshalb ein Dorn im Auge. Es passt nicht in unsere Agrarwelt, daß Nutztiere nicht ausgebeutet, sondern am Leben gelassen werden. Für "Nutztiere" gilt das Tierschutzgesetz nicht. "Nutztiere" sind zum Nutzen da. Nicht zum leben.
Hof Butenland wird alle Unterstützung brauchen gegen die Arme des Staates.

Ist es ein Traum, daß wir der Liebe nicht wert sind?

In diesen Tagen werden 30.000 Menschen verhungern. Jeden Tag.
Sie verhungern, weil die subventionierte Landwirtschaftspolitik des Westens die in Jahrtausenden gewachsenen landwirtschaftlichen Strukturen in ihren Ländern zerstört hat. Sie verhungern, weil in ihren Ländern Produkte angebaut werden, mit der unsere „Nutztiere“ gemästet werden. Sie verhungern, weil die Monokulturen die Fruchtbarkeit ihrer Böden zerstören. Sie verhungern, damit unser Essen billig wird.

Ist es ein Traum, daß wir zu hässlichen Kreaturen wurden?

In diesen Tagen werden mitten unter uns zehntausende Menschen an Krankheiten sterben, die durch falsche Ernährung verursacht werden. Jeden Tag.
Diabetes, Osteoporose, Herzkrankheiten. Es sind ähnlich viele Menschen wie die Toten durch das Rauchen. Während die Tabakindustrie in die Knie geht, darf die Nahrungsindustrie immer schlimmere Praktiken durchsetzen.

Ist es ein Traum, daß wir uns selbst enthaupten?

In diesen Tagen können wir nicht mehr auf die Politik vertrauen. Kommissionen, die die Industrie kontrollieren sollen, sind durchsetzt von Vertretern der Industrie. Kein einziges mächtiges Organ ist mehr in unabhängiger Hand. Wir können niemandem mehr trauen, der mit der Ausbeutung der Natur Geld verdient.

In diesen Tagen gibt es nur einen, der den Mächtigen die Stirn bieten kann. Und so stehen wir vor der wichtigsten Wahl unseres Lebens: Werden wir die entsetzlichen Zustände länger dulden? Werden wir weiter unseren Verstand betäuben lassen, damit wir weiter gedankenlos konsumieren und uns fett- und krankfressen dabei? Und werden wir die Zukunft unserer Kinder gleich mit verschlingen?

Oder werden wir uns unserer Macht bewusst und entziehen dem furchtbaren Geflecht, das unseren Planeten zerstört, den Boden?

Es wäre so einfach. So unsagbar einfach: Wir dürfen das wuchernde Geflecht nicht mehr füttern. Wir hungern es aus, lassen die Produkte einfach liegen, die unsere Welt zerstören. Wir erinnern uns an die Liebe, die die Natur uns schenkt. Wir lernen, sie wieder zu lieben. Und wieder frei zu sein. Damit sie wieder zurückkehrt zu uns. Damit wir wieder zu dem werden, was wir waren: Geliebte des Lebens.

Nie war es so leicht, die Welt zu verändern.
Nie war es so leicht, uns zu heilen.
Warum tun wir es nicht einfach?
______

Und beim letzten Glanz Deiner Augen
bei der Wärme, die Deine Adern verließ, Liebster
und beim letzten Zug Deines Atems
als sich der Sturm der Nacht wieder legte
und meine Tränen Deinen leblosen Körper überströmten
habe ich unser Schicksal gesehen.
______

Marsili Cronberg 
 
für Sirena
wo immer Du jetzt bist 



Titel der Legende von Sirr und Sirén - Grafik: Heinz Koch, Köln

Epilog

Die Legende von Sirr und Sirén 

„Die Legende von Sirr und Sirén“ beschreibt in einer mythischen Fantastikwelt den leidenschaftlichen Kampf der Natur (Sirén) um ihr geliebtes, aber todgeweihtes Geschöpf „Mensch“ (Sirr). Sirén erweckt Sirr in einer metaphernhaften Welt noch einmal zum Leben. Sie lässt ihn Sehen und Fühlen. Sie erweckt in ihm die Fähigkeit, ihre Schmerzen in seiner eigenen Seele zu spüren. Sie lässt ihn verstehen, welche Macht in ihm steckt. Und als er Sirén zu verlieren droht, da erwächst er zum mythischen Krieger für ihre Liebe.

Sirr steht in der Legende für die erwachten Menschen unserer Zeit. Er steht für die, die die Schmerzen der Natur spüren können. Er steht für das wachsende „Heer“ derer, die um die Liebe des Lebens kämpfen, um die Tiere, um die Wälder. In meiner Welt ist die Geschichte zwischen Natur und Mensch eine voller Schmerz und Schuld. Doch es ist eine Liebesgeschichte. Ein Epos in einer fantastischen Metaphernwelt, die weit entfernt in unserer Zukunft existiert. www.marsili-cronberg.de

Liebeslied-Klagelied ist mit Siréns und Sirrs Stimme gesungen.
Die letzte Strophe ist Siréns Klage über den Verlust von Sirr.
Die Klage der Natur über die Selbstauslöschung des Menschen.
____

Wenn Dein Glanz in den Seelen vergeht
Wenn Deine Wärme im Weltsturm verweht
Wenn das Licht Deiner Augen verloren scheint
und sich Liebe und Sünde zu Bürde vereint

Erst dann, wenn wir unrettbar verloren sind
werden wir verstehen
wer Du wirklich bist

Mittwoch, 9. Februar 2011

Das Mahnmal für die Verbrechen des Speziesismus

Ich möchte heute an ein besonders schmerzhaftes Kapitel der Menschheit erinnern. Ich habe gestern das Mahnmal für die Verbrechen des Speziesismus am Kölner Domfeld besucht und reihte mich dort unauffällig in eine von der populären Stadtführerin Else Vera Söring geführte Touristengruppe ein. Ich kenne ihren Vortrag auswendig, aber ich sehe mir einfach gern die Gesichter der Zuhörer an. Wenn man Menschen beobachtet, die sich mit diesem dunklen Thema beschäftigen, dann sieht man immer in bedrückte Gesichter. Viele haben Tränen in den Augen, stille Tränen. Kaum jemand verliert ein Wort. Die Einkehr der Menschen am Denkmal ist bemerkenswert. Aber ich kann es gut verstehen, denn man steht hier nicht vor irgendeiner Skulptur, sondern vor einem Mahnmal der Demut. Selbst heute im Jahr 2200 verlieren die Schrecken nicht an Wirkung.

Im angeschlossenen Museum erfährt man von der Geschichte des Speziesismus, die meist unterteilt wird als Rassismus innerhalb der menschlichen Rasse und zum anderen in den Verrat an artfremden Lebewesen. Ich beschäftige mich heute mit letzterem und lade Euch ein zu einem Rundgang im Museum für die Verbrechen des Speziesismus.

Ich zitiere zunächst einmal aus der Broschüre des Museums:

Der Begriff Speziesismus beschreibt die Weltanschauung, die das menschliche Wertesystem in das Zentrum des allgemeinen Wertesystems stellt, alle anderen Lebensformen diskriminiert und damit zu einer Verschiebung des ökologischen Gleichgewichts führt. Die Eskalation der aus dieser Weltanschauung resultierenden schweren Verbrechen gegen Tier- und Pflanzenwelt ab dem 20. Jahrhundert wird heute allgemein als Ursache für die Entwicklungen gesehen, die zum Zusammenbruch der menschlichen Gesellschaft vor Big Zero im Jahre 2052 führten.

Dieser Text liest sich nüchtern. Wenn man sich aber im Museum die Exponate ansieht, die Bilder und Videos, dann versteht man, warum heute kein Ereignis der Weltgeschichte dunkler bewertet wird als die Zeit, in der die Industrialisierung den schon immer vorhandenen Speziesismus der Menschen zu einem Monster der Grausamkeit wuchern ließ.

Ganz am Anfang des Rundganges erfährt man zunächst etwas über die empathische Depression. Wenn man sich mit der Vergangenheit noch nicht befasst hat, rätselt man zunächst über den Zusammenhang mit diesem Thema. Die meisten Menschen verlassen später die Ausstellung jedoch aufgelöst und mit Tränen in den Augen. Sie haben begriffen, welchem Wahnsinn diese Krankheit geschuldet ist, die nach der Jahrtausendwende um sich griff.

Die empathische Depression

Die empathische Depression wurde erstmals im Jahr 2014 in Deutschland als psychische Erkrankung anerkannt und befiel ausschließlich Menschen, die empathische Sinne für die Umwelt entwickelten. Durch Ablehnung der durch Medien, Politik und Industrie geschönten Berichterstattung und Information in engagierten Medien erlangten sie Wissen über die wahren Hintergründe des menschlichen Wohlstandes. Viele Menschen erkannten die wahren Ausmaße der Verbrechen gegen Tiere und Natur, waren in ihrer Erkenntnis jedoch oft hilflos einer Gesellschaft ausgesetzt, die diese Tatsachen aggressiv ignorierte. Dem Konflikt, gegen die von Medien beeinflusste Mehrheitsmeinung zu diskutieren, gepaart mit dem Wissen um die realen Grausamkeiten, hielten viele Menschen nicht stand. Viele Menschen wurden aufgrund ihres unbequemen Wissens vom persönlichen Umfeld ausgegrenzt, selbst innerhalb von Familien. Der Hinweis auf das Leid der Tiere wurde oft ins Lächerliche gezogen. Der Kampf um den Erhalt alter Bäume wurde kriminalisiert.
Im Kampf um die Erhaltung der Natur gegen eine aus dem moralischen Lot geratenen Gesellschaft gaben viele Menschen auf und glitten in eine Depression.

Es waren Menschen, die die Verbrechen erkannten, Menschen, die die Zerstörung sahen. Menschen, die auf einmal begriffen, welchen Schaden die Gesellschaft anrichtete. Und die für ihr Wissen von denen mit Missachtung oder Spott überschüttet wurden, die das marode System als erhaltungswürdig befanden. Und das war damals noch die Mehrheitsmeinung, krampfhaft verteidigt  von der Politik.

In der Ausstellung folgen nun beeindruckende Beispiele, beide aus dem Jahr 2011:

Zunächst wird von einem Eigentümer eines Waldes berichtet, der die moralische Verwerflichkeit der Jagd erkannt hatte, in seinem eigenen Wald das Jagen verbieten lassen wollte und dafür vor Gericht zog. Er unterlag in allen Distanzen. Nach geltendem Recht musste jeder Besitzer eines Waldstückes die Jagd darin gestatten. Das Urteil wurde vom damaligen Agrarminister begrüßt, sein Statement zum Urteil gegen den Menschen, der die Tiere in seinem Wald schützen wollte, liest sich wie ein Dokument des Schreckens: "Das Urteil stärkt dem bewährten Revierjagdsystem den Rücken. Eine flächendeckende Wildtierbewirtschaftung, die nicht an zufälligen Grundstücksgrenzen Halt macht, ist eine wichtige Voraussetzung für eine zeitgemäße Jagdausübung."
Der Staat avancierte zum Anstifter für Vergehen gegen die Natur.

In der Ausstellung betritt man nun einen weiten, stimmungsvollen Raum. Es knistert und raschelt, man riecht feuchte Erde. Man steht in Ellis Auenwald. Vögel zwitschern, da hinten vermeint man einen Specht zu hören. Efeu rankt über den Köpfen. Ein paar Schritte sind einem nur gegönnt. Ein großer alter Baum scheint aus dem Boden zu wachsen, unwillkürlich hebt man den Kopf und blickt in die verwachsene Baumkrone. Es ist ein Ort des Friedens.

Dann dimmt das Licht herab. Die Projektion der Baumkronen verblasst, eine aufgeregte Stimme trägt tränenerstickte Worte vor. Die Worte stammen von einer geheimnisvollen Frau namens Elli. Es sind Worte, die sie am 9. Februar 2011 ins weltweite Netz klagte:

„Mir ist zum Heulen. Sie haben meine wunderschöne alte mächtige Zauberesche umgesägt. Sie war noch so gesund und stabil und Heim von vielen Vogelnestern. Die roden hier wie die Geisteskranken den Wald rund um mein Haus. Alles weg, der ganze Auenwald. Der Lärm macht mich irre und alle paar Minuten wackelt das Haus, weil ein Baum fällt. Ich hoffe, dass alles bald zusammenbricht, alles, die ganze Welt. Ich ertrage es nicht mehr.“

Wir wissen heute nichtmehr, wo genau dieser verwunschene Wald stand, der zu Beginn des Jahres 2011 zerstört wurde. Nur die Bilder der Elli von diesem wunderbaren Ort des Friedens und des Lebens sind erhalten geblieben. Ein Ort, der der genormten Plastik- und Betonwelt der Menschen weichen musste.



Dann wird es still. Totenstill. Das Licht geht ganz aus und man wird gezwungen, innezuhalten. Dann leuchtet auf einmal dunkelgrün ein Quadrat am Boden auf. Es wird heller und heller, gleißend hell. So hell, daß es zu schmerzen beginnt. Dann wird es heiß, man hat das Gefühl, daß das Licht den eigenen Körper durchscheint

Dann erlischt es schlagartig. Schwarz. In den Augen hallt das Licht nach. Und dann wird einem ein erstaunlicher Effekt bewusst. Obwohl alles um einen schwarz ist, hat man das Gefühl, immer noch in diesem grünen Quadrat zu stehen. Es ist eine Projektion des eigenen Geistes.
Nach einigen Sekunden ertönt eine sonore Männerstimme:

Vier Quadratmeter.
Vier Quadratmeter voller Leben und Vielfalt.

In Filmen sind Beschützer des Waldes Helden.
Ausschließlich.
In Büchern wird die Idylle des Waldes besungen.
Und immer nicken die Leser.

Das war immer so. Nicht nur heute wird der Wald geehrt. Er wurde immer geehrt.
Doch bis vor Big Zero 2052 wurde das Abholzen der Wälder kritiklos hingenommen. Akzeptiert von Menschen, die ihren Kindern Bücher über Waldgeister und alte, weise Bäume vorlasen und in Filmen Menschen hassten, die Bäumen etwas antun.

Vier Quadratmeter.

Noch bis ins Jahr 2020 wurden Rinder mit einem Nahrungsmittel gefüttert, das aus Soja gewonnen wurde. Sojabohnen wurden in Ländern angebaut, die damals als „Dritte Welt“ bezeichnet wurden und deren Reichtum an Wäldern berühmt war.

Die Flächen für den Anbau mussten dem tropischen Wald abgerungen werden. Da die Böden nach wenigen Jahren Sojaanpflanzung ihre Fruchtbarkeit verloren, musste immer mehr Regenwald weichen.

Forscher rechneten um, wie viel Fläche Wald für eine einzige Fastfoodmahlzeit aus Fleisch weichen musste. Die Zahl war bereits vor der Jahrtausendwende bekannt.

Es waren vier Quadratmeter.
Vier Quadratmeter voller Ödnis und Traurigkeit.
Unwiederbringlich zerstört.
Für einen Hamburger.



Mir fehlen an dieser Stelle die Worte. Ich habe keine mehr. Mein Verstand ist leergefegt. Ich gehe weiter.

Tierproduktion

Die Einstellung, daß manche Pflanzen- und Tierarten ausschließlich der menschlichen Ernährung dienten und die damit einhergehende gänzliche Entrechtung dieser Lebewesen befeuerte ab Mitte des 20. Jahrhunderts eine explosionsartig wachsende und immer profitable werdende Industrie, die ihre Gewinne mit Tierprodukten erwirtschaftete. Damit einhergehend erfolgte ein immenser Qualitätsverlust, die Senkung des Anspruchs auf Nahrungsmittel, was einen gewaltigen Markt für minderwertige Fertigprodukte und immer billiger produzierte Lebensmittel schuf. Die Wertschätzung der Opfertiere, die für den menschlichen Wohlstand ihr Leben geben mussten, fiel ins Bodenlose. Man benutzte für diese empfindungsfähigen Wesen offiziell den entsetzlichen Begriff „Nutztiere“.

Der in die Irre führende Begriff „Fastfood“ suggerierte eine Verkürzung der Zeiten für die Nahrungsaufnahme, wurde später aber vor allem zum Begriff für die Verkürzung der menschlichen Lebenszeit. Als nach der Jahrtausendwende immer mehr Menschen klar wurde, daß sie mit billig produzierter Nahrung Körper und Hirn zerstörten, war es für viele bereits zu spät. Denn Krankheiten wie Demenz und Multiple Sklerose machen sich erst Jahrzehnte später bemerkbar. Demenz wurde bald zur weltweiten Epidemie erklärt.
(Anmerkung: dieses Thema habe ich schon einmal hier aufgegriffen)

Man hat den größten Komplex der Ausstellung erreicht, wenn man diese Worte hört. Es geht um die Gewinnung von Nahrungsmitteln aus Tieren.

Dann hält man inne vor einer projizierten Kuh. Sie wirkt lebendig. Ruhig mampfend stapft sie über eine Wiese. Man riecht die Blumen.

Dann eine sanfte Frauenstimme:

In der Geschichte der Menschheit spielte der Konsum von Tieren bis um das Jahr 2050 eine wichtige Rolle. In der Vorgeschichte diente Tiernahrung möglicherweise als Lieferant für wichtige ungesättigte Fettsäuren dem Wachstum der menschlichen Gehirne und damit der Entwicklung der menschlichen Intelligenz. Der Mensch wäre ohne die Unterstützung der Tiere vielleicht nicht zur herrschenden Spezies geworden. Wie bedeutend die Rolle der tierischen Nahrung dabei wirklich war, wird jedoch nie mehr zu rekonstruieren sein.

Unumstritten ist jedoch, daß über Jahrtausende die Tiere unsere Begleiter waren. Durch das Zusammenleben mit den Tieren in Dörfern lernte der Mensch Respekt vor ihnen und vermied es, Tieren unnötigen Schaden zuzufügen.

Auf einmal wird es düster. Der Raum schrumpft zusammen, die Kuh blickt verstört auf, ein Stall. Beton. Überall Beton. Die Tonlage der Frauenstimme senkt sich:

Dann folgte der Verrat an unseren Begleitern. Das Verhältnis zu den Tieren verwandelte sich ab Mitte des 20. Jahrhunderts mit der Zentralisierung der Landwirtschaft, mit der Haltung der Tiere in riesigen Ställen. Die Konsumenten verloren den Kontakt zu ihren Mitgeschöpfen. Diese Trennung wurde von Politik und Industrien gezielt gefördert. Die Entwicklung grausamer Techniken zur Tierproduktion führte zu einer immer höheren Effektivität. Um die Akzeptanz dieser Techniken durch die Bevölkerung nicht zu gefährden, schuf man eine Scheinwelt, die kaum noch etwas mit der versteckten Realität zu tun hatte. Diese Scheinwelt -propagiert in Fernsehen, Kochshows, Zeitungen und Büchern, sollte den Verbrauchern versichern, daß die Tiere artgerecht gehalten würden und die tägliche Aufnahme von Tierprodukten selbstverständlich zum menschlichen Leben gehört. Ende des letzten Jahrtausends glaubte der Großteil der Menschen, daß a) Tiere keine Leiden empfinden können; b) Tiere für den Nahrungskonsum da seien; und c) der Mensch ohne Tierkonsum nicht existieren könne. Es ist für uns heute unvorstellbar, wie die Menschen innerhalb von Jahren ihr in Jahrhunderten erfahrenes Wissen über Ernährung und Tiere komplett verlieren konnten. Der bewusst erschaffene Irrtum wurde zur allgemein akzeptierten Mehrheitsmeinung und konnte so die immer schnellere Produktionssteigerung der Fleischindustrie vor dem Liebesentzug durch den Verbraucher bewahren. Die Tragödie nahm ihren Lauf.

Ein Beispiel folgt. Man sieht Küken. Eng zusammengedrängt. Sie sind süß, doch dann stockt einem der Atem. Die Küken fallen auf ein Förderband. Dann Hände. Hände von Frauen. Sie heben die Küken an und werfen einen Teil von ihnen in einen Trichter. Was man sieht, ist zutiefst verstörend. Denn die ausgelesenen süßen Küken werden getötet. Die Frauenstimme fährt fort:

Zur Produktion von Eiern wurden spezielle Hühner gezüchtet. Da diese nur auf das Eierlegen spezialisiert waren, wurden alle männlichen Küken nach dem Schlüpfen aussortiert, vergast und zerschreddert. Sie wurden für die Fleischproduktion nicht verwendet, weil es dafür andere Zuchtrassen gab, die schneller wuchsen und somit höheren Gewinn abwarfen.




Wenn man richtig hartgesotten ist und einen die vorangegangenen Räume nicht erweichen konnten, dann geschieht dies spätestens jetzt. Es gibt keine Worte, um die Abscheu vor diesen entsetzlichen Verbrechen zu beschreiben, die noch bis ins Jahr 2020 praktiziert wurden.


Was sagten die Menschen der damaligen Zeit dazu? Eier aus Massentierhaltung wurden von den meisten Verbrauchern kritiklos akzeptiert. Hätten sie auch nur ein einziges Küken selbst getötet? Langsam kann man sich in die Menschen versetzen, die damals verzweifelt auf die Verbrechen aufmerksam machten, nicht ernst genommen wurden und dann in die empathische Depression verfielen.

Dann leuchtet über den fassungslos machenden Bildern einer riesigen Schlachterei ein Satz auf und bleibt Minutenlang stehen:

Wenn man alle Fähigkeiten und Emotionen eines Lebewesens zu bewerten versucht, wird am Ende verbleiben: die Fähigkeit, Freude zu empfinden und die Intensität, Leiden zu spüren.



Liebe Freunde, dieser Rundgang fällt schwer. Es gibt heute viele Quellen, in denen man sich über die grausamen Auswirkungen des Speziesismus informieren kann. Ich will Euch aber eine Quelle nennen, die aus der Zeit um die Jahrtausendwende stammt. Seht Euch diesen Film einmal an, wenn ihr Zeit habt. Und stark seid.

 
Wenn man die Ausstellung verlässt, ist das wie ein Erwachen aus einem bösen Traum. Man tritt in die frische Luft, atmet tief ein und ist froh, nicht in dieser schrecklichen Zeit gelebt und Anteil an diesem Verbrechen gehabt zu haben. Wäre man selbst aufgestanden, wenn man Mensch dieser Zeit gewesen wäre? „Natürlich!“ höre ich auf diese Frage immer. „Undenkbar, daß ich da mitgemacht hätte!“

Doch wie war es wirklich? Konnten die Menschen sich dem System einfach entziehen? Das Denkmal für die Verbrechen des Spezizismus drückt neben der Scham für unsere Vorfahren auch die Hilflosigkeit aus, die Menschen von damals zu verstehen.

Deshalb kehre ich gedanklich nocheinmal zurück in den letzten Raum der Ausstellung. Dort erfährt man:

Zu Beginn des 20.Jahrtausends wurden die Debatten um das Nahrungssystem immer offener und schmerzhafter geführt. Immer mehr Informationen waren verfügbar, die das bevorstehende Versagen und die Grausamkeit des gesellschaftlich gewachsenen Systems offenbarten.

Eine heftige Diskussion entbrannte um die Rolle der Konsumenten. Waren sie Opfer eines deformierten gesellschaftlichen Systems, weil sie in ihm aufwuchsen und die Grausamkeiten nicht mehr wahrnehmen konnten oder waren sie Mittäter, weil sie diese durch ihren unbedachten Konsum trugen? Waren die immensen Versehrungen an Körper und Gehirn Resultat der gewissenlosen Nahrungsmittelindustrie oder waren diese selbst verschuldet? Konnten die Menschen die Verbrechen gegen Umwelt und Tiere nicht sehen, weil diese von Industrie, Politik und angeschlossenen Medien mit aller Macht geschönt wurden?
Oder wollten sie diese nicht sehen, obwohl sie wussten, daß durch Internet und Bücher ausreichend Informationsmaterial zur Verfügung stand? Waren sie zu bequem? Hielt sich die Abwehr gegen Verzicht auf Tierprodukte deshalb so lange als Mehrheitsmeinung?

Bis heute gibt die Teilnahmslosigkeit des größten Teils der damaligen Bevölkerung große Rätsel auf.

Konflikt zwischen Idealismus und Pragmatismus

„Wir müssen Verständnis haben!“ ruft der Pragmatiker.
„Es ist ein Prozess, der ohne Krieg geführt wird, der Umdenkprozess muss sich von unten durch ein ungeheuer mächtiges System kämpfen, das die Hirne der Menschen versklavt hat und diese gewissenlos ausbeutet. In einem Krieg kann man den Gegner mit physischer Gewalt niederringen, mit Waffen und Bomben. Wir jedoch haben nur Bilder und Worte. Wir kämpfen zwar für die Moral, aber gegen Gesetze. Wir können die Menschen aus dem parasitären Apparat nur herauslösen, wenn wir die Drähte in ihren Gehirnen veröden. Wenn wir die Krakenarme der Industrie in den Köpfen der Menschen nach und nach austrocknen.“

„Die Menschen sind erbärmlich! Sie müssen büßen! Und die Tierquälerei muss sofort gestoppt werden“ ruft der Idealist.
"Die Menschen jammern über einen Schnupfen und beklagen sich lauthals über zu teures Benzin oder sogar das schlechte Wetter, während nebenan in abgeschotteten Fabriken des Grauens empfindsamen Mitgeschöpfen nach Monaten der qualvollen Turbozucht Bolzen in den Kopf geschossen und mit automatischen Messern die Halsschlagadern zertrennt werden. Millionenfach!“

Der Konflikt zwischen Idealisten und Pragmatikern innerhalb der Tierrechtsbewegung forderte viele Opfer. Die Idealisten konnten die Schmerzen nicht ertragen, forderten einen sofortigen Stop der Tierproduktion, was in diesem System leider eine Utopie bleiben musste. Die Pragmatiker forderten Zurückhaltung und verwiesen auf die Argumentation und unermüdliche Überzeugungsarbeit bei den Verbrauchern, um zum Ziel zu kommen.

Die Gegner der Tierrechtsbewegung nutzten diese inneren Zwiste schamlos aus, indem sie Tierrechtler für Nichtigkeiten anprangerten, der Lächerlichkeit preisgaben und sogar kriminalisierten. Viele engagierte Menschen verloren die Lebensgrundlage und zogen sich entnervt zurück. Erst mit der Einigung der verschiedenen Bewegungen u.a. Vegetarismus, Veganismus, Tierschutz, einhergehend mit schmerzhaften Zugeständnissen, wurde durch die Beendigung der inneren Reibereien den Gegnern der Boden entzogen.

Wie es weitergeht, haben wir alle in der Schule gelernt. Eine erstarkte und in der westlichen Welt vereinte Tierrechtsbewegung erlangte mit einem Mal die Macht, Medien und Politik zu beeinflussen. Im Jahr 2012 konnte Mark Zuckerberg* durch eine weltumspannende Kampagne überzeugt werden, einen Teil seines Vermögens für wirksame Gegenwerbung zu nutzen, mit der schließlich die mediale Macht der Fleischindustrie gebrochen wurde. Die Lawine des Umdenkens nahm an Fahrt auf und war nicht mehr aufzuhalten. Schließlich reagierte auch die Politik, unter anderem durch Einführung einer Kennzeichnungspflicht für tierquälerische und umweltschädigende Produkte sowie Produkte, für die Tierversuche durchgeführt wurden. Das Erwachen war schmerzhaft. Es war ein Erwachen aus einer Plastikwelt. Es war der Anfang vom Ende der milliardenfachen Tierqualen.
* ... durch Gründung einer Internetplattform namens facebook wurde er zum Milliardär

Mark Zuckerberg ist heute kaum noch bekannt für seine facebook-Gründung. Wie ihr wisst, ist er zu einem Helden der Geschichte geworden. Im Jahr 2029 wurde ihm für seine Verdienste für den Wandel des menschlichen Bewusstseins, das bald zum weltweiten Verbot der Massentierhaltung führte, der Friedensnobelpreis verliehen.

Wie wir alle wissen, wuchs zu dieser Zeit aber schon heran, was den Menschen Jahre später zum Verhängnis wurde. Doch das ist ein anderes Thema.

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Das Denkmal für die Verbrechen des Speziesismus besteht aus konservierten Tierresten, die neben einer ehemaligen Schlachterei in Köln ausgegraben wurden. Klauen, Borsten, Hörner, Schnäbel und Knochen. Unmengen an achtlos weggeworfenen Knochen.

Ein Denkmal des Schreckens und der Mahnung, daß sich der Mensch nie wieder über die Natur erheben darf. 

Gegenüber des düsteren Denkmals steht ein Denkmal für das Leben. Es ist ein Denkmal für Ellis Zauberbaum. Man muss nicht einmal nahe herangehen, um Ellis berühmte Worte in der weiten Krone schimmern zu sehen. Elli schrieb sie einen Tag nach dem schmerzhaften Verlust ihrer Esche. Es sind Worte der Hoffnung, aber auch Worte der Mahnung, nicht den Glauben an sich zu verlieren und seinem Herz zu folgen. Es sind Worte, die heute jedes Kind kennt, weil sie in die Geschichte eingingen: Zauberbäume gibt es überall da, wo Bäume nicht gefällt, sondern von Menschen geliebt und bewundert werden.